„Wir sind verwurzelt in der Sprache“

Als Jude ohne Gott: Der französische Schriftsteller Marek Halter über das Judentum, das sich von der Religion emanzipiert hat, über seinen Film „Die Gerechten“ sowie die Gebote der Friedfertigkeit und der Freiheit – auch der, sich seine Identität zu wählen

Interview PHILIPP GESSLER

taz: Herr Halter, Sie schreiben in Ihrem Buch über die Juden, dass diese als erstes Volk eine Art von Demokratie eingeführt „dass sie als erste ein Bewusstsein für Geschichte gehabt und als erste den Gedanken der Befreiung formuliert hätten, da sie per se gegen jede Art von Diktatur seien“. Gleichzeitig behaupten Sie, keine Lobeshymne über das Judentum verfasst zu haben. Wenn das keine Lobeshymne ist, was ist es dann?

Marek Halter: (lacht) Das Buch ist eine Erzählung davon, warum ich, Marek Halter, das Judentum gewählt habe. Ich bin kein Jude, weil ich als Jude geboren wurde. Ich habe jüdische Freunde, die Katholiken, Protestanten, Buddhisten wurden – etwa der Sänger Leonard Cohen, der nun Buddhist ist, mit dem ich mich aber auf Jiddisch unterhalte. Wir sind frei. Wenn ich ein freier Mensch sein will, muss ich kämpfen für die Demokratie.

Weil ich Jude bin, bin ich ein freier Mensch. Weil ich ein freier Mensch bin, bin ich Jude. Das ist der erste Satz der Zehn Gebote: „Ich bin der Gott, der dich befreit hat von der Sklaverei.“ Wir gehen in die Geschichte als freie Menschen. Das ist sehr wichtig.

Sie haben Ihr Buch für Ihre Patenkinder geschrieben, die schon erwachsen sind. Einer von ihnen ist Christ. Wird er sich nicht von Ihrer Begeisterung für das Judentum ausgegrenzt fühlen?

Nein. Mein Freund Kardinal Lustiger, der Erzbischof von Paris, mit dem ich auch Jiddisch spreche, wird alle Qualitäten des Christentums schöner beschreiben. Mein Buch hat das Thema Judentum, weil sich viele Leute heute fragen, was das Judentum ist. Außerdem wissen viele Juden nicht, warum sie Juden sind. Die Mehrheit der geborenen Juden sind Juden, weil sie es als ihr Schicksal begreifen, aus Fatalität. Andere sind Juden, weil es Antisemitismus gibt: Vor vier Jahren hatte ich mit meinem Freund Danny Cohn-Bendit eine Debatte auf der Frankfurter Buchmesse. Dabei hat er mich sehr mit seiner Aussage verärgert, er werde Jude sein, solange es Antisemitismus gibt. Ich habe geantwortet: „Einen Moment, mein Lieber, du bist ein freier Mensch. Ob der Antisemit dich lieb hat oder nicht – das ist nicht unser Problem. Wenn du kein Jude sein willst, bist du es nicht. Wenn wir abhängig sind von dem anderen: Wo ist da unsere Freiheit?“

Sie schreiben in Ihren Buch, nach dem Krieg hätten Sie nach einer Identität gesucht. Warum war es Ihnen so wichtig, eine feste Identität zu haben?

Weil die Fragen der anderen wichtig für mich waren. Ich bin geboren in einer schlimmen Zeit, in einer für mich schlechten Gegend, in Warschau. Meine ersten Erinnerungen sind die an das Warschauer Getto. Deshalb waren dies meine ersten Fragen: Warum die Verfolgungen? Warum werden nicht meine katholischen Freunde verfolgt? Wenn andere mich verfolgen: Was bin ich? Als ich dann nach Frankreich kam, fragten mich die Franzosen, ob ich Pole sei. Ich sagte, ich sei in Polen geboren, aber ein Jude. „Ah, Jude – aber was heißt das: ein Jude?“ Für religiöse Juden ist ihre Identität kein Problem: Es ist ihre Religion. Sie gehen jeden Tag in die Synagoge. Ich aber bin nicht religiös. Ich weiß nicht, ob Gott existiert. Ich glaube an die Menschen.

Kann man Jude sein, ohne an Gott zu glauben oder irgendwie religiös zu sein?

Das wollte ich meinen Patenkindern zeigen: Ich bin Jude, weil ich Teil einer Kulturgruppe sein wollte, die ein historisches Gedächtnis und eine historische Identität hat. Und die Gruppe gefällt mir. Die wichtigste Motivation ist, dass es wohl die einzige Kulturgruppe ist, die nicht in der Erde verwurzelt ist, sondern in der Sprache. Die Juden haben den Wörtern eine phantastische Kraft gegeben, eine Macht. Sie haben erkannt, dass Gott die Erde, den Menschen und alles nur mit Wörtern geschaffen hat. Und ich liebe das, vielleicht weil ich Schriftsteller bin.

Die Schoah und Israel seien, so ist bei Ihnen nachzulesen, für Ihr Judentum nicht bestimmend. Für andere sind gerade diese beiden Punkte zentral.

Die Juden waren ein Volk schon vor etwa 2.600 Jahren, zu Zeiten Nebukadnezars II., als Jerusalem zerstört war. Die Schoah ist also ein Teil, vielleicht der stärkste, der schrecklichste Teil der Geschichte der jüdischen Verfolgungen. Aber die Juden sind nicht das einzige Volk auf der Welt, das verfolgt wurde: das wurden auch die Kurden, Armenier, Ruander. Ich will nicht sagen, das sei dasselbe. Die Schoah und Israel sind ein Teil meiner Geschichte, aber das hat nicht den größten Einfluss auf meine Identität. Ich bin ein positiver Mensch. Ich handle nicht gegen etwas, ich bin für etwas.

Sie haben von der Macht der Wörter gesprochen und geschrieben, sie hätten das Wort „Jude“ zum ersten Mal auf Deutsch gehört: Was ist Ihr Verhältnis zu Deutschland?

Ich liebe die deutsche Kultur, die deutsche Literatur. Mein Großvater, der ein religiöser Jude war, hat sehr gut Deutsch gesprochen. Er kannte Gedichte Goethes auswendig. Sicher höre ich von Zeit zu Zeit Wörter, die mir einen Schlag geben – schon wenn einer „kaputt“ sagt, obwohl das eigentlich ein ganz harmloses Wort ist. Das ist aber das Wort, das man als Erstes gehört hat, wenn man ins Warschauer Getto kam: „Juden kaputt.“ Das hat nichts zu tun mit der Mehrheit der Deutschen – aber so funktioniert eben mein Gedächtnis.

Juden in Israel, so wie der frühere Staatspräsident Eser Weizman, haben immer wieder kritisiert, dass Juden in Deutschland leben. Können Sie diese Kritik verstehen?

Nein. Ich habe zu meinem Freund Claude Lanzmann gesagt: „Du hast etwas sehr Wichtiges gemacht: Die Geschichte des Bösen.“ Das war der Film „Schoa“, neun Stunden über das Böse. Die Welt wird erbaut von den Bösen und den „Gerechten“, von den Guten. Wir müssen den jungen Leuten zeigen: Sie haben eine Wahl zwischen diesen und anderen Beispielen.

Mein Film die „Gerechten“ wurde vor sechs Jahren bei einer Sondervorführung im Internationalen Forum des Jungen Films bei den Berliner Filmfestspiele gezeigt. Darin habe ich hier in Berlin Deutsche gefunden, die in der Nazizeit Juden geholfen haben zu überleben: 5.000 Menschen wurden gerettet. Das war gefährlich für die Retter. Es waren oft sehr einfache Menschen. Und wenn ich sie gefragt habe, warum sie das gemacht haben, hatten sie gar keine rechte Antwort. Es war so normal für sie. Hannah Arendt hatte eine interessante Idee dazu. Sie sagte, wir sehen das Böse, da es oberflächlich wuchert wie ein Pilz, nur das Gute aber geht in die Tiefe. Als ich meinen Film auf dem Filmfestival in Haifa gezeigt habe, sagte der damalige Ministerpräsident Jitzhak Rabin: Wir Juden haben gelernt, etwas zu sagen, wenn die Welt böse ist. Aber wir müssen lernen, Danke zu sagen, wenn die Welt gut zu uns ist.

Nach Ihrem Verständnis gehört zum Judentum die Friedfertigkeit. Derzeit ist Israel, das sich als jüdischer Staat begreift, nicht friedfertig. Leiden Sie an dem Krieg dort?

Mein Traum ist es, die sechs Millionen Juden in Israel zu sehen, wie sie im Frieden mit den Palästinensern leben. Wenn ich sage, dass das erste jüdische Gebot die Freiheit ist – dann muss auch der Nachbar frei sein. Solange die Palästinenser keinen Staat haben, werden die Israelis keinen 100 Prozent freien Staat haben. Ich gehörte zu den ersten, die das in Israel öffentlich formuliert haben. Das habe ich auch die frühere Ministerpräsidentin Golda Meir und den jetzigen Außenminister Schimon Peres und anderen alten Freunden gesagt.

Ich war der erste Jude, der 1969 zu Jassir Arafat nach Jordanien gefahren ist. Ich habe ihm versichert: „Ich bin ein proisraelischer Jude, der bereit ist zu kämpfen für die Existenz und Freiheits Israels – aber ebenso für deine Rechte.“

Das Judentum habe sich von Gott emanzipiert, haben Sie geschrieben. Was ist der richtige Weg zum Frieden: Eine nähere Anbindung an Gott oder eine Emanzipation von ihm?

Die erste Persönlichkeit des Judentums ist Abraham. Und er schließt mit Gott einen Vertrag. Dabei diskutiert er mit Gott als ein Gleicher mit einem Gleichen, denn er versteht, dass nur Gleichberechtigte miteinander einen Vertrag schließen können. Sonst hätte man keinen Kontrakt. Abraham protestiert dagegen, was Gott mit Sodom machen will. Denn er sagt: „Wo ist die Gerechtigkeit? Du wirst vernichten die Bösen, aber auch etliche Gerechte.“ Gott antwortet: „Du bist gerecht.“ Das finde ich gut: Wenn Gott existiert, ist er in meinem Gewissen. Er ermutigt mich zu erkennen, dass die anderen auch ein Leben und die gleichen Rechte haben. Ich kann mit meinem Gewissen diskutieren, mit Gott.

Sie reden viel von Gott: Warum glauben Sie nicht an ihn?

Ich bin da vielleicht wie Kafka: Als man ihn gefragt hat, ob er an Gott glaube, sagte er: Er wisse es nicht, aber er glaube, dass es irgendwo sehr große Ohren gibt.

Ist es Ihnen schon einmal wie Noah gelungen, Gott zu überzeugen?

Ich habe versucht, Menschen zu überzeugen. Ich war aber nicht allein. Als wir gekämpft haben für Demokratie in Argentinien, wo die Generäle eine Cousine von mir umgebracht haben: Da haben wir gewonnen. Ich habe vor zehn Jahren versucht, die Welt für Ahmed Massud zu mobilisieren, den einzigen demokratischen muslimischen Führer in Afghanistan – die Welt wollte ihm nicht helfen. Jetzt ist er tot, und alle weinen.

Bei Andrej Sacharow haben wir gewonnen. Zusammen mit dem Cellisten Mstislaw Rastropowitsch haben wir eine Kampagne für ihn organisiert. Mit der Hilfe Gottes und der Menschen haben wir einen Menschen befreit: Er war im Gulag und konnte zurück nach Moskau.

Sie haben einen Menschen gerettet – und so die ganze Welt?

Ja. Vielleicht werden meine Bücher bleiben. Das wird die Geschichte zeigen. Aber zu sagen: Ich habe geholfen, einen Menschen zu retten – das ist wichtig.