Gleißende Ankunft im Eigentlichen

Schwule und Lesben erleben sich selbst oft als marginalisiert. Dabei hegen aufgeklärte Heteros ihnen gegenüber Gefühle, die sie überraschen dürften: tiefen Neid auf ihr Coming-out!

von DIRK KNIPPHALS

Die Champagnercreme war schuld. Oder vielleicht war es auch die Tatsache, dass man in unseren ausdifferenzierten Zeiten noch nicht einmal von der Fußballberichterstattung oder von poststrukturalistischen Diskursen annehmen kann, dass sie jeden interessieren. Allein beim Thema Sex kann man sicher sein, dass wirklich alle aufmerksam zuhören. Und so kamen wir – eine Abendgesellschaft wie für Ulrich Woelks Roman „Liebespaare“ entworfen, sechs Großstadtbewohner Mitte, Ende Dreißig – in einer neu eingerichteten Küche zum Dessert zügig auf sexuelle Präferenzen zu sprechen.

Die Kolumnen der Kollegin Jenni Zylka hier in dieser Zeitung wurden erörtert. Bald darauf hatte jemand die einschlägigen Kleinanzeigenseiten eines Stadtmagazins zur Hand. Mit dem dort verwendeten Fachvokabular (Griechisch, Spanisch, Natursekt, Rollenspiele, Gesichtsbesamung usw.) zeigte sich ein jeder vertraut; schließlich hätte man sich eine Blöße gegeben, wenn man in diesem Alter nicht aufgeklärt mit menschlichem Begehren umzugehen gelernt hätte. Und doch muss die unglaubliche Vielfalt der Möglichkeiten und Spielarten eine diffuse Irritation erzeugt haben. Jedenfalls hörte man irgendwann mein Gegenüber am sorgfältig eingewachsten Holztisch in Richtung von M., dem einzigen Schwulen in der Runde, seufzen: „Ihr habt es leicht. Beim Coming-out müsst ihr ein paar Probleme mit eurer Mutter durchstehen. Aber danach wisst ihr, woran ihr mit euch seid.“

M. beeilte sich zwar zu versichern, dass wir uns auch heute so ein Coming-out nicht zu unkompliziert vorstellen dürften und dass danach mitnichten alles klar sei; vielmehr sei die Bandbreite an Homosexvariationen noch viel ausgetüftelter als bei der heterosexuellen Liebe, nehme er zumindest an, und überhaupt gebe es ein paar Sonderprobleme für Schwule auch noch im Jahr 2001. Aber geschmeichelt war M. doch auch irgendwie. Dass Heteros auf die spezifisch homosexuelle Form der Individuation im Allgemeinen (M. war Soziologe) und das Coming-out im Besonderen neidisch sein könnten, dieser Gedanke sei ihm noch nie gekommen.

In der Tat. Das Thema Coming-out hat auch für Heterosexuelle viele interessante Aspekte. Wenn die Behauptung eine gewisse Evidenz hat – und die hat sie –, dass sich schwullesbische und heterosexuelle Lebensentwürfe durch mehr als nur die körperliche Beschaffenheit der jeweiligen Sexualpartner unterscheiden, dann kann man ja auch mal darauf schauen, worin diese Unterschiede denn eigentlich genau liegen. Die altehrwürdige große Erzählung, dass die einen eine unterdrückte gesellschaftliche Minderheit darstellten und die anderen die unterdrückende Normalität, hat angesicht von durchgesetzter Homoehe und erkennbarem politischen Antidiskriminierungswillen jedenfalls viel von ihrer Plausibilität verloren. Also, worin liegen sie denn dann, die Unterschiede?

Vielleicht ja unter anderem in einer jeweils anders ausgerichteten Neidstruktur. Einer, der sich in den Auseinandersetzungen um die Homoehe vor einigen Monaten publizistisch stark in die Bresche geworfen hat, erklärte mir sein Engagement so: Das, was ihr habt, wollen wir auch haben können. Bewunderungswürdig, wie unverkrampft er zu seinem Neid stehen konnte! Unumwunden setzte er voraus, was vor wenigen Jahren wahrscheinlich noch Empörung ausgelöst hätte: dass der Neid auf ein Normaloleben – auf Hochzeit und Ehekrach, auf Verbindlichkeit und Zugehörigkeit – ein wichtiger Antrieb der Schwulen- und Lesbenbewegung innerhalb der gesellschaftlichen Anerkennungskämpfe darstellt.

Gewisse kämpferische Kader mögen sich zwar immer noch als gesellschaftliche Avantgarde begreifen, indem sie die Normalität der Kleinfamilie unterlaufen. Aber erstens erledigen das die Heteros inzwischen selbst zur Genüge, und zweitens zeigte die Mehrzahl der Reaktionen auf die Homoehe doch wohl, dass die meisten Homos die Möglichkeit gesteigerter Normalität mit Genugtuung aufnahmen – immerhin können sie sich jetzt, was die meisten Homosexuellen wohl auch tun, freiwillig gegen die Ehe entscheiden. Willkommen im Klub!

Was in schwullesbischer Perspektive ein Normalwerdenkönnen ist, ist für Heteros allerdings gelegentlich ein Normalseinmüssen. Kürzlich kam ein geschätzter Autor in die Redaktion und bezeichnete die Erzeugnisse einer gewissen gerade angesagten Band als „Musik für weiße Heteros, die gerne schwule Schwarze wären“. Solche Leute gibt es! Und recht verstanden findet sich dieser Impuls, so darf man annehmen, im Bewusstsein vieler Normalos wieder, wenn auch natürlich nicht bis zur letzten Konsequenz. Ein bisschen Außenseiter wäre doch ein jeder gern.

Nicht, dass man sich das Coming- out richtig toll vorstellt. Egal ob Mann oder Frau, ob Homo oder Hetero: Es sollte unsereinen schon sehr wundern, wenn in den gängigen Lebensromanen die Zeit der erwachenden und zu sich kommenden Sexualität nicht ein dunkles Kapitel voller Verwirrungen, Verletztheiten, Unsicherheiten, Lustigkeiten und Peinlichkeiten darstellte. Aber immerhin: Innerhalb dieses bedrängten und bedrängenden hormonellen und seelischen Gewimmels, so denkt man sich das, bietet ein Coming-out einen klaren und gesunden Punkt der Ich-Konstitution. Die Martin-Luther-Situation: Hier steh ich, ich kann nicht anders.

Was einen, so denkt man sich das weiter, im Vollzug dessen, was unabdingbar ist – in Auseinandersetzung mit den Eltern und anderen Sozialisationsinstanzen zu sich und seinen Neigungen zu stehen nämlich –, gleichsam automatisch die eigene Besonderheit erfahren lässt. Während man als Hetero nur mehr oder minder glücklich das umsetzen kann, was sowieso von einem erwartet wird: dass Jungs Mädchen und Mädchen Jungs lieben. Auch nicht schlecht, aber in bezug auf die Hoffnung, zu sich selbst zu finden, nicht immer verheißungsvoll. Während man im Coming-out neidisch einen Punkt vermuten darf, von dem aus es einem dann gelingt, wirklich man selbst zu sein; schließlich sind es hier keine fremden Erwartungen, die man umsetzt, weder die der Gattung noch die der Eltern.

Es gibt noch einen zweiten mit Neidgefühlen aufladbaren Aspekt: den der Verwandlung. „Das Schlafende muss erwachsen“, so lautet die im Film „Der Wüstenplanet“ rituell wiederholte Zauberfloskel. Sie trifft recht genau auch die im Begriff des Coming-outs arbeitende Vorstellung: dass etwas in der Tiefe des eigenen Wesens verborgen ist, erweckt wird und an die Oberfläche kommt, heraus kommt eben. Wir können gar nicht anders, als diese Vorstellung mit einer grundlegenden Veränderung der ganzen Person, mit einem Neuanfang und einer Art Ankunft im Eigentlichen zu verbinden; sie hat etwas Gleißendes. Weshalb unsereiner die These vertritt, dass die fröhlichen CSD-Umzüge in unseren Großstädten nicht allein die Funktion haben, die Größe und Buntheit der schwullesbischen Bewegung zu demonstrieren, sondern für jeden Teilnehmer auch die, das eigene Coming-out rituell zu feiern.

Auf diese Möglichkeit eines alles ändernden Neubeginns kann man als Hetero – wenn einen das eigene Selbst mal wieder so klein und hutzelig vorkommt – schon neidisch sein. Selbst wenn man, bei Licht besehen, zugeben muss, dass hier mehr heterosexuelle Projektion als homosexuelle Alltagswelt im Spiel ist: Homosexuelle Menschen können ja nicht entscheiden, ob oder auch wann sie ein Coming-out haben wollen; sie haben es einfach. Aus dem inneren Erleben heraus mag sich so ein Prozess gedrängter und längst nicht souverän anfühlen. Immerhin: Der Kult des ersten Males, bei dem man heterosexuell zur Frau oder zum Mann werden soll, ist dafür ganz und gar kein Ersatz.

Sowenig wie mittlerweile das Coming-out als Künstler, das zu Zeiten des jungen Thomas Mann eine ähnlich umfassende Kraft entfaltet haben muss wie das homosexuelle Coming-out, inzwischen aber nivelliert und banalisiert ist. „Mama, ich werde Künstler!“ Das ist kein Satz mehr, bei dem man noch die Wucht elterlicher Missbilligung zu spüren bekommen wird, höchstens mitleidige Blicke, verbunden mit dem Ratschlag: Aber mach zur Sicherheit erst einmal ein BWL-Studium. „Mama, ich bin schwul!“ Das dagegen ist, da halten wir jede Wette, immer noch ein Satz, der in ganz anderer Weise Risiko eingeht.

Es gibt wohl im heterosexuellen Leben nur ein einziges Ereignis, bei dem sich die Erwartungshaltungen und Rollenmuster, die einem entgegen gebracht werden und die man sich selbst entgegen bringt, ebenso durchgreifend und schlagartig ändern wie beim homosexuellen Coming-out: wenn man Mutter oder Vater wird. Als dieser Gedanke damals am sorgfältig gewachsten Tisch ausgesprochen wurde, hat M. zuerst skeptisch geschaut, dann aber gelacht. Den Grappa haben wir dann auf Neugeburten getrunken.

DIRK KNIPPHALS, 38, leitet das Kulturressort der taz. Als Vater hat er sich bislang zweifach durchgreifend neu definiert