Koalition gegen Babylon

Die Welt ist nicht genug (5): Der Antiglobalisierungsprotest hat noch keine eigene Popästhetik hervorgebracht. Darum erlebt Reggae eine Renaissance – als neuer, alter Sound der Revolte

■ Seattle, Tokio, Göteborg und Genua – die Weltordnung der „New Economy“ wird nicht länger als Chefsache akzeptiert. Mit der Wahrnehmung sozialer Ungerechtigkeit wächst auch der Widerstand. Wie aber sehen die Kritiker der Globalisierung aus? Was treibt sie an? Und welche Kultur entsteht aus dem neuen Protest?

von DANIEL BAX

An der Stelle, an der in Genua vor einem Monat der 23-jährige Carlo Giuliani von einem Carabinieri erschossen worden ist, haben Freunde und andere mitfühlende Menschen an einem Zaungitter so etwas wie eine Gedenkwand errichtet, wo Blumen und Briefe, Bilder und andere Opfergaben an den Getöteten erinnern. Wer Einblick erhalten möchte in die Geisteswelt und das Gemüt der Globalisierungskritiker – nicht ihrer intellektuellen Fürsprecher und Impulsgeber, sondern der durchschnittlichen Demonstranten –, sollte hier auf alle Fälle eine Rast einlegen. Denn wenn Carlo Giuliani tatsächlich der erste Märtyrer des Antiglobalisierungsprotests geworden ist, dann schlägt hier das Herz der Bewegung.

Noch hat sich kein Semiotiker und kein journalistischer Analytiker der Sprache angenommen, die aus den Schreiben an den Ermordeten spricht, oder einen verbindenden Topos jenseits platter Parolen wie „Kapitalismus tötet“ gesucht. Aber allein schon die Fotos, die an den Gitterzaun geheftet wurden, sprechen für sich: Ein Bild des offenbar unvermeidlichen Che Guevara entdeckte der Reporter der New York Times zwischen den vielen bunten Dreingaben und ein Foto von Bob Marley. Interessanterweise sind es ausgerechnet altbewährte Popikonen des Antiimperialismus der Siebzigerjahre, die für die Protestierenden von heute noch immer ungebrochene symbolische Bedeutung besitzen. Zwar existiert jener einst monolithisch gedachte Komplex „Dritte Welt“, für die der Revolutionär wie der Reggaestar einmal stellvertretend standen, so nicht mehr; auch mag der damalige Kampf der nationalen Befreiungsbewegungen angesichts des Scheiterns vieler nachkolonialer Regimes rückblickend viel von seinem einstigen Glanz verloren haben.

Im Schatten der Vorbilder

Offenbar aber hat die neue internationale Protestbewegung noch keine eigenen popkulturellen Identifikationsfiguren und ästhetischen Symbole hervorbringen können, die es mit den altbewährten aufnehmen könnten. Gut, der Wandersänger Manu Chao, der für die Demonstranten in Genua ein Freikonzert gab, hat durchaus das Zeug, zum personifizierten Gewissen der Globalisierungskritik zu werden. Und der Anführer der aufständischen Zapatisten in Mexiko, der stets maskierte Subcomandante Marcos, ist derzeit das letzte Glied in der langen Kette südamerikanischer Revolutionshelden. Aber sie stehen doch im Schatten und wirken im Vergleich eher wie ein Abklatsch ihrer überlebensgroßen historischen Vorbilder.

Zum Beispiel Bob Marley. Der Gedanke dürfte seinen bis heute treuen Anhängern vermutlich nicht gefallen, dass die Nummer eins der Dritte-Welt-Musik einen großen Teil ihres Ruhms dem Marketinggeschick eines multinational operierenden Plattenmagnaten verdankt: dem visionären Musikunternehmer Chris Blackwell nämlich, der Bob Marley 1972 für seine Plattenfirma „Island“ unter Vertrag nahm. Blackwell, der auf Jamaika geborene Sohn eines englischen Plantagenbesitzers (!) und damit prädestiniert für den Handel mit lukrativen Rohstoffen auf dem Weltmarkt, hatte sein Label zehn Jahre zuvor gegründet, um die Musik Jamaikas, die ihn selbst begeisterte, nach Großbritannien zu importieren.

Zunächst hatte er für seine Platten ein ausschließlich karibisches Publikum im Blick, doch bald schon erwies sich der Crossover-Appeal der Musik aus Jamaika, die schnell auch eine wachsende weiße Hörerschaft fand. Mit Bob Marley nun stieß Chris Blackwell auf einen Kandidaten, der mit seinem Charisma und der Kraft seiner Musik über jenes Potenzial verfügte, zum ersten Weltstar aus der Peripherie aufzusteigen – zum ersten Weltmusik-Star, würde man heute wohl sagen.

Instinktsicher orientierte sich Chris Blackwell an den Trends der Zeit, um seinen Schützling als Außenseiter in der auf die USA und England gepolten Musikwelt einzuführen. Er passte dessen musikalisches Auftreten an das vorherrschende Rockformat an, das einen Lead-Gitarristen verlangte – dass Bob Marley so als individueller Star aus der Gruppe herausgehoben wurde, führte später dazu, dass die beiden Gründungsmitglieder Peter Tosh und Bunny Wailer 1974 die Band verließen. Blackwell ließ die Wailers außerdem den Rhythmus ihrer Stücke beschleunigen, um die Musik auch weißen Rockfans schmackhaft zu machen, verlagerte ihren Schwerpunkt weg vom stilprägenden Bass und Schlagzeug und legte ein größeres Gewicht auf Keyboards und Gitarre.

Vor allem aber setzte er auf das Image des Reggae als „Rebel Music“, um ihn einer politisierten Öffentlichkeit zu verkaufen, wie Simon Jones in „Black Culture, White Youth“ schreibt, einem Buch, das den Weg des Reggae von Jamaika nach England nachzeichnet. So fielen die Cover von Marleys beiden ersten „Island“-Alben durch eine Pop-Art-Grafik ins Auge, die den kämpferischen und aufrührerischen Aspekt der Musik hervorhob. Und so wurde der Rastafari zum Prototyp des militanten Dritte-Welt-Rebellen umgemodelt, zum Vorbild für Kompromisslosigkeit und Militanz, dessen Antipoden irgendwo in Babylon zugange waren.

Bob Marley selbst hat diesen politischen Auftrag stets sehr ernst genommen und maßgeblich dazu beigetragen, das dem Reggae bis heute der Ruf einer Musik des Widerstands anhaftete. Eine Botschaft, die sich gelegentlich selbst erfüllte: So motivierte Marleys Auftritt 1980 bei der Unabhängigkeitsfeier in Simbabwe viele Musiker des Kontinents, den Reggae aufzugreifen, als Musik des antikolonialen Kampfs und der schwarzen Selbstbehauptung. Und auch die politisch bewegten Bands der Punkära, von den Specials bis The Clash, ließen sich stilistisch von Ska und Reggae inspirieren. Sie sahen in den Rude Boys aus den Ghettos von Jamaika Geistesbrüder im globalen Kampf gegen eine ungerechte Welt – ein Koalitionsangebot, für das sich Bob Marley postwendend mit seinem „Punky Reggae Party“-Song bedankte.

Natürlich war Reggae nie ausschließlich jener politische Sound des Aufbegehrens, auf den ihn die Rezeption im Ausland so gerne reduzierte – das war vor allem eine Projektion einer westlichen Linken, die weltweit auf der Suche nach Verbündeten war. Schließlich war der real existierende Reggae auf Jamaika immer auch Unterhaltungsmusik, die ganz ohne tieferen Hintersinn konsumiert wurde. In dem Clash-Song „White Man in Hammersmith Palace“ beschrieb Joe Strummer 1978 exemplarisch jene Enttäuschung, die ein weißer Reggae-Liebhaber erleben konnte, der sich auf der Suche nach der „wahren“ und „echten“ Musik Jamaikas einmal dem Realitätstest unterzog. Das Stück beschreibt, wie Strummer sich eines Abends aufmacht zu einem Ausflug ins Hammersmith Palace, einem Treffpunkt karibischer Schwarzer in London. Doch statt des erwarteten Roots-Reggae sieht er sich dort nur seichtem Pop ausgesetzt – „It was Four Tops all Night, with encores from stage right“ – vom erhofften Glanz quasi naturwüchsiger Militanz keine Spur.

Technik statt Text

In den 80ern, nach Bob Marleys frühem Krebstod, verloren die Musik-Hipster in den Metropolen des Westens das Interesse an Jamaika – zum einen, weil die Roots-Tradition verflachte, zum anderen, weil die Dancehall-Szene mit ihrer Gewaltverherrlichung und Homophobie dominant wurde. Erst in den Neunzigern, als die Dub-Experimente der jamaikanischen Reggae-Pioniere als Urknall der Club-Musik neue Wertschätzung erhielten, wandte man sich wieder der Insel zu – nur, dass sich das Interesse inzwischen verlagerte hatte, von den Musikern zu den Produzenten, von Marley und Konsorten zu Lee „Scratch“ Perry und King Tubby, und vom Text zur Technik. Dieser Popdiskurs, der Dub als Strategie der Dekonstruktion feierte, betrachtete die Musik lieber losgelöst von allen politischen und religiösen Hintergründen.

Marleys Ausstrahlung aber wirkte, ungeachtet aller Pop-Konjunkturen, auch nach seinem Tod ungebrochen nach. Sein Mythos bewies eine erstaunliche Langlebigkeit – auch dank kleiner Marketing-Nachhilfe durch seine Plattenfirma. 1984 erschien mit dem Album „Legends“ eine Greatest-Hits-Sammlung, die sich bis heute weltweit mehr als zwölf Millionen Male verkauft hat – eine Rekordsumme. Das Cover der Compilation zeigt einen milde lächelnden Marley, das Kinn auf seine Hand gestützt, und betont eher das Bild des nachdenklichen Naturmenschen als das des rebellischen Outlaws. So wurde Marleys Image subtil dem veränderten Zeitgeist angepasst, um mit entpolitisierter Exotik den Publikumsgeschmack der 80er zu treffen. Der Subtext der Rebellion schwingt bei Marley zwar immer noch mit – aber er trägt jetzt eher das Gesicht des hedonistischen Aussteigers in der Hängematte als das des Aktivisten auf der Barrikade.

Pate der Protestmusik

Umso überraschender nach solcher Mainstream-Werdung, dass Bob Marley immer noch taugt als Pate einer politischen Protestmusik. Der Wahl-Barceloneser Manu Chao beruft sich ausdrücklich auf Marley als Vorbild – und teilt mit ihm das Problem, dass hinter den eingängigen Liedern mit ihren scheinbar simplen Melodien die Aussage zurücktritt. Der Happy-Go-Lucky-Eindruck, den Manu Chaos polyglotte Trällerweisen leicht machen, lässt die doppelbödigen Texte vergessen, die vom Los der Immigranten und der Nach-uns-die-Sintflut-Stimmung auf der südlichen Hälfte der Weltkugel erzählen.

Dass ausgerechnet der längst global gewordene Reggae als Sound der Gegenglobalisierung herhalten muss, ist ein typisches Paradox der Bewegung – und treibt mancherorts skurrile lokale Blüten. So beruft sich etwa der baskische Dub-Aktivist Fermin Mugurutza, ein Freund von Manu Chao, auf den jamaikanischen Klang seines Brigadista Sound Systems, um der Forderung nach Bewahrung „baskischer Identität“ Nachdruck zu verleihen. Auch in Deutschland hat Reggae plötzlich wieder Konjunktur. Der Hamburger Rapper Jan Delay von Absolute Beginner hat dem Roots-Reggae in deutscher Sprache eine Tür geöffnet, und mit seinem grandiosen Solo-Album „Searching for the Jan Soul Rebels“ die Latte für Nachahmer sehr hoch gehängt. Und auch der bayrische Haschrebell Hans Söllner kann sich mit seinem Mundart-Reggae wieder ganz auf der Höhe der Zeit fühlen, sein neues Live-Album trägt stolz die Farben Grün-Gelb-Rot. So bietet sich das Feindbild Babylon bis heute als Projektionsfläche an, für Aneignungen ganz unterschiedlicher Art.