In den Wüsten der Provinz

Große Schriftsteller und Dramatiker blicken auf kleine Leute: Der Stückemarkt des Theatertreffens und die Misere des deutschen Gegenwartstheaters

Das Gegenwartstheater fängt an ältlich auszusehen. Das könnte an der Hybris liegen, mit der Regisseure und Autoren oft auf diese Gegenwart schauen, der sie sich oft annehmen wie der Sozialarbeiter seiner Klientel. Der Stückemarkt, der jedes Jahr im Rahmen des Theatertreffens stattfindet, gab ein gutes Bild von der Misere. In allen Stücken ging es um die berühmten kleinen Leute, auf die von höchster Schriftstellerwarte herabgeblickt wurde. Doch wenn man von oben so weit nach unten blickt, dann sieht man nur wenig. Oder bloß das, was man sehen will. Am Stadtrand tut sich nichts, hat also der Dramatiker Dirk Dobbrow („Alina Westwärts“) beobachtet, dort leben schwitzende Filialleiter mit hohem Cholesterinspiegel, Hausfrauen mit Putzzwang und sexuell unerfüllte junge Männer.

Dobbrows Desperados scharen sich um eine verlassene Tankstelle. Hier lebt Tom mit seiner Mutter. Tom und seine Freunde stehen für Stillstand, während die Straße und das Mädchen, das eines Tages in einem weißen Ford Mustang, Baujahr 1969, hier vorfährt, die Inkarnation ihrer Sehnsüchte sind. Über diese Sehnsüchte sprechen sie in einer poetischen, manchmal ans Schwülstige grenzenden Sprache, als erwarteten sie, dass hier incognito jeden Moment auch die Jury des Darmstädter Leonce-und-Lena-Preises für Lyrik vorgefahren kommt.

Werner Fritsch und seine Frau Uta Ackermann haben in einem Provinzsupermarkt viele Ewiggestrige gefunden („Supermarkt“). Der Supermarkt steht auf dem Gelände eines ehemaligen KZ und feiert zehnjähriges Bestehen. Dem Dramatikerpaar gelingt es mühelos, den Handlungsbogen vom verbrecherischen KZ-Arzt über Konsumkritik, KZ-Tourismus und „national befreite Zonen“ bis zum Big-Brother-Container zu schlagen. Um diese Leistung angemessen zu würdigen, wäre eine Einladung zum Stückemarkt gar nicht nötig gewesen. Ein Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde hätte ausgereicht. Auch Bernhard Studlar „Transdanubia-Dreaming“ hat einen tiefen Blick in die Wüsten der Provinz getan. Schauplatz ist ein Gartenlokal am Rand von Wien, von wo die Leute auf die Donau blicken können, die in der Ferne vorüberfließt. Irgendwie ist die ferne graue Donau natürlich auch ein Symbol für das ungelebte Leben, dessen Auswüchse uns Bernhard Studlar mit Witz und Aberwitz beschreibt. Witwen beim Tortenessen, alte Nazis, die davon albträumen, dass die toten Juden zwecks Rache als himmlische Armee vom Himmel herabgeschwebt kommen.

Lauter liebe Ausländer und böse Österreicher, Frauen, die ihre Männer vergiften, und Nazis, die Kebab-Buden anzünden. Mittendrin Manfred, der melancholische Versager, der am Ende trotzdem die schöne Jennifer kriegt. Nur Matthias Zschokke („Die singende Kommissarin“) führt den Blick auf die anderen ad absurdum. Ein Radiosender ist in der Silversternacht zu Gast auf einem Polizeirevier, dessen Kommissarin vor zwanzig Jahren als „singende Kommissarin mit ihren swingenden Vopos“ mal sehr berühmt war. Der Radiomoderator verspricht sich Einblicke in spektakuläre Kriminalfälle mit Gesangseinlage plus Silvesterfeuerwerk. Doch was er bekommt, ist der Blick auf die profane Poesie des Lebens. Naturgemäß muss das den Moderator enttäuschen. Die Zuschauer von Christine Schorns kongenialer Darbietung dieses Fast-Monologs aber waren hoch zufrieden.

ESTHER SLEVOGT