Pillenhandel ohne jede Kontrolle

Im Knast Moabit hatte das medizinische Personal ungehinderten Zugang zu Betäubungsmitteln, jeder Pfleger konnte nach Lust und Laune nachbestellen. Doch wer hat dies zu verantworten? Stationen eines verworrenen Skandals

Was ist der Medikamentenskandal?

Am 11. August 2006 erhält der Leiter des Moabiter Knasts den Hinweis, in der Gefängnisapotheke würden Medikamente von Bediensteten für Privatzwecke abgezweigt. Doch erst am 19. September erstattet der Leiter nach hausinternen Ermittlungen bei der Polizei Strafanzeige gegen vier Bedienstete und einen ehemaligen Bediensteten seiner Anstalt – einen Tag nach den Landtagswahlen.

Öffentlich ist von einem „Medikamentenskandal“ erst seit dem 24. Januar 2007 die Rede. Das RBB-Magazin „Klartext“ berichtet unter Berufung auf anonyme Quellen: Für Gefangene bestimmte Medikamente würden in großem Umfang von Bediensteten aus dem Moabiter Knast geschafft.

Wie groß ist der Schaden?

Das weiß niemand. Die Aufklärung ist schwierig, weil die meisten Anschuldigungen nicht verifizierbar sind. Die fünf Beschuldigten haben bislang keine Aussage gemacht. Die von „Klartext“ zitierte anoyme Zeugin hat sich nie bei der Polizei gemeldet.

Wie reagiert die Justizverwaltung?

Der damalige Justizstaatssekretär Flügge beauftragt am 22. September die Innenrevision, den Ablauf der Medikamentenausgabe in den Gefängnissen Plötzensee, Tegel und in der Jugendstrafanstalt zu prüfen. Im Moabiter Knast erfolgt keine Prüfung. Flügge begründet dies am Mittwoch im Rechtssausschuss damit, die Ermittlungen der Staatanwaltschaft sollten nicht gestört werden. Flügges Frau ist seit 1998 kommissarische Leitende Anstaltsärtzin in Moabit. Seit Ende April ist sie pensioniert. Das Ergebnis der Innenrevision: In den untersuchten Gefängnissen findet keine Inventarisierung der Medikamente statt.

Was macht Gisela von der Aue?

Die neue Justizsenatorin erfährt erst am 15. Januar vom Personalrat von den Ermittlungen. Am 7. Februar schickt sie Flügge in den Ruhestand. Die Begründung: „Wir haben in grundlegenden Dingen keine Übereinstimmung erzielt –nicht nur in Fragen, die die Aufarbeitung der sogenannten Medikamentenaffäre betreffen.“ Am 13. Februar setzt sie eine Untersuchungskommission ein, die die organisatorische Medikamentenausgabe im Moabiter Knast überprüfen soll. Am 16. April legt Kommissionsleiter Werner Heinrichs seinen Abschlussbericht vor.

Was ermittelt die Kommission?

„Etwas Vergleichbares habe ich noch nicht erlebt“, sagt Heinrichs. „Es gab überhaupt keine Kontrolle.“ Jeder vom medizinischen Personal habe ungehinderten Zugang zu den Medikamenten, auch zu den Betäubungsmitteln. Es werde keine Dokumentation über die Vorratshaltung geführt. Jeder Pfleger habe Medikamente bestellen können. Selbst auf Bestellungen ohne Unterschrift hat die auswärtige Apotheke geliefert. Ein Vergleich zwischen Bestellung und Lieferung fand nicht statt. Der Vertrag mit der Zulieferer-Apotheke erfolgte ohne öffentliche Ausschreibung. Seit 2003 mahnt der Rechnungshofs, die Ausschreibung nachzuholen – ohne Reaktion.

Was sind die Konsequenzen?

Von der Aue hat eine grundlegende Neuorganisation der Medikamentenversorgung angekündigt. Außerdem prüft sie die Einleitung von disziplinarischen Vorermittlungen gegen etwaige Verantwortliche.

PLUTONIA PLARRE