Leben und Essen: Abfall à la carte

Ist Resteessen im Restaurant ein politischer Akt oder tatsächlich nicht viel mehr als eine Geste?

Aus der Tonne auf die Teller – werden Essensretter-Lokale der neue kulinarische Trend? Bild: dpa

Es war ein kulinarisches Abenteuer, als um die Jahrtausendwende jede Stadt ihr Dunkelrestaurant bekam. Gäste kamen und fragten sich: Wie speist es sich, wenn ich wie ein Blinder esse? Verändert sich der Geschmack, wenn ich nicht sehe, was auf dem Teller liegt? Und was, wenn da sogar etwas liegt, das ich eigentlich gar nicht mag?

Für viele ist es heute wieder ein kulinarisches Abenteuer, wenn sie sich überwinden zu essen, was sonst auf dem Müll landen würde. Essensretter-Lokale könnte man die politischen Erlebnisrestaurants von heute nennen. Kopenhagen hat schon eins, Amsterdam und London auch, Köln hat sich daran versucht, nun ist Berlin an der Reihe. Restlos glücklich heißt das Projekt, das im Juni nach einer Probezeit eröffnet.

Das Konzept: Die Zutaten, die in den Küchen verwendet werden, sind im real existierenden Lebensmittelsystem Ausschuss: weil das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, weil das Gemüse verwachsen ist oder eine angedatschte Stelle hat und als unappetitlich gilt. Oder weil das Brot vom Vortag und allein deswegen unverkäuflich ist.

Kaum mehr als ein Pro-Windkraft-Sticker auf dem Heck des SUV

Das sind nur einige der Gründe, warum heutzutage Lebensmittel in unfassbaren Mengen auf dem Müll landen. Jährlich sind das allein in Deutschland nach einer Studie des WWF achtzehn Millionen Tonnen. Da klingt es nach einer guten Idee, aus dem Essensmüll der Industriegesellschaft noch Wert zu schlagen. Sozusagen Cooktainern statt Containern. Es sieht wie ein politischer Akt aus, in solche Lokale essen zu gehen. Aber hilft es was?

Es ist kaum mehr, als sich einen Pro-Windkraft-Sticker aufs Heck des SUV zu kleben. Wer sich einen Besuch bei den Essensrettern traut, macht auch den aus radikaler kulinarisch-emanzipatorischer Sicht entscheidenden Schritt? Man muss daran zweifeln. Die Idee eines Verfalls- oder Mindesthaltbarkeitsdatums ist ohnehin Mist. Objektiv ein Datum festlegen zu wollen, an dem Genießbarkeit aufhört, kann nur, wer die industrielle Denke von Gewähr und Garantie eins zu eins auf Lebensmittel übernehmen will.

Was wir essen, soll aber für immer mehr Menschen doch die Natur produziert haben oder so naturnah wie möglich sein. Und eben kein Industrieprodukt. In der Natur aber fällt jeder Apfel von einem anderen Zweig, er reift anders und verfällt anders. Das zu ignorieren, ist der erste Denkfehler.

Und der zweite: Beim Kochen greifen wir eigentlich in den Verfall ein und wenden ihn zu unserem Nutzen, halten ihn auf oder beschleunigen ihn sogar. Nehmen wir Milch. Wird sie sauer oder gerinnt sie, beginnt erst die Phase, in der aus diesem Rohstoff Delikatessen werden. Angefangen beim Joghurt und bis zum Käse. Dafür kommt zuweilen sogar Schimmel – wie ekelig – ins Spiel.

Nachhaltig zu sein, heißt radikaler zu essen

Wer so etwas weiß, dem sind Haltbarkeitsdaten herzlich egal, auch in der eigenen Küche. Der entwickelt eine persönliche Vorstellung von Haltbarkeit und kann so einkaufen, dass er auch weniger wegschmeißen muss. Als Faustregel gilt: Wer einen Hang zur Großbevorratung hat, entsorgt auch mehr. Mal ehrlich: Das wöchentliche Gemüsekistenabo leisten Sie sich doch auch nur leichten Gewissens, weil es im Hinterhof eine Biotonne gibt, die Futter will.

Inzwischen setzt sich sogar schon CSU-Agrarminister Schmidt dafür ein, das Mindesthaltbarkeitsdatum abzuschaffen. Zucker und Salz würden dann gar kein Datum mehr tragen, weil sie ewig haltbar sind. Für Mehl und Trockennudeln gilt Ähnliches. Damit gingen den Essensrettern die Rohstoffe aus. Kritik an Schmidts Plänen gibt es nicht. Die Grünen sagen nur: Schmidt soll sich um Wichtigeres kümmern, etwa um die Agrarwende.

In der Gastronomie selbst ist der Müll kein so eklatantes Problem. Jeder Koch ist schon einmal vor einer Kiste mit Kartoffeln gestanden, die im Keller vergessen worden und inzwischen gesprossen sind. Er hat dann nach kurzer Überlegung entschieden, die nicht wegzuschmeißen, sondern eine Kartoffelsuppe daraus zu machen. Oder er schaut nach unansehnlichem, billigem Gemüse für die Brühe.

Mehr Essensmüll fällt im Restaurant an, wenn Gäste vom Buffet essen – oder wenn zu viel auf die Teller kommt. Das Restlos glücklich in Berlin fährt deshalb die Portionen kleiner, bietet aber Nachschlag an. Man kann sich im Restaurant servieren lassen, was im Supermarktmüll wegen Überproduktion und Verbraucherlaune gerade Erntezeit hat. Eine Geste. Aber nachhaltig zu sein, heißt radikaler zu essen, was lokal gerade Saison hat. Denn kurz gesagt: Warum soll, wer keinen Industriescheiß will, dann genau das essen, was selbst die Industrie für scheiße hält?

JÖRN KABISCH, kulinarischer Korrespondent der taz

Der Artikel ist erschienen in zeozwei 3/16. Gerne können Sie den Artikel auf unserer Facebook-Seite diskutieren.