Forschung an Berliner Unis: Der Plagiator der Wüste

Der Bioniker Ingo Rechenberg schaut der Natur ganz genau auf die Finger. Die ausgereiftesten Prozesse schaut er ab und überträgt sie auf die Technik - mit verblüffendem Erfolg

Berlin ist die Hauptstadt der Wissenschaft: 4 Universitäten, 4 Kunsthochschulen, 4 Fachhochschulen, 12 Privathochschulen und etwa 140.000 Studierende. Dahinter verbergen sich viel Potenzial, viel Kreativität - und jede Menge schillernde und skurrile Ideen. Die taz stellte einige Wissenschaftler und ihre Forschungsgegenstände vor: Experten, die das auszeichnet, was Wissenschaft ausmachen sollte - Neugier für das Abseitige und Neue. Zum Abschluss der taz-Serie steht heute der Bioniker Ingo Rechenberg im Fokus, der die schon prominente Radler-Spinne in der Sahara entdeckt hat. Davor waren es die Horrorforscherin Julie Miess, die Wunderforscherin Natascha Adamowsky, der Ethnologe Wolfgang Kaschuba, die Sprachwissenschaftlerin Dagmar Schmauks, der Tierstimmenforscher http://www.taz.de/regional/berlin/aktuell/artikel/1/die-doktorin-und-die-faule-sau/ und der Ekelforscher http://www.taz.de/regional/berlin/aktuell/artikel/1/theoretiker-eines-starken-gefuehls/. TAZ

Am liebsten ist Ingo Rechenberg allein in der Wüste. Nur er und sein VW-Bus und drum herum Sand, so weit das Auge reicht. Tage kann der Bioniker von der Technischen Universität (TU) dann mit Spaziergängen durch die Dünen verbringen und nach Kleingetier Ausschau halten, ohne mit einem Menschen zu sprechen. Klingt schräg und täuscht: Rechenberg ist kein verrückter Professor, sondern ein versierter Technologe. Er untersucht die Mechanismen der biologischen Evolution, um technische Entwicklungen voranzutreiben. Rechenberg, eigentlich längst Pensionär, ist einer der international führenden Forscher auf dem Feld der Bionik.

"Extremregionen wie die Wüste oder Arktis und Antarktis sind äußerst interessant, weil dort die biologische Evolution ein außergewöhnlich leistungsfähiges Optimierungsverfahren entwickelt hat", sagt er. "Jedes Mal wurde die bestmögliche Lösung erarbeitet, und das wollen wir auf die Technik übertragen." Rechenberg erklärt verständlich und anschaulich. Er ist im Lauf der Jahre zum Medienprofi geworden. Entdeckt der Forscher ein neues Tier, melden Fernsehsender, Radiostationen und Zeitungen Interesse an. Wie jüngst, als die Radlerspinne aus der Sahara eine rasante Medienkarriere hinlegte. In Scharen kamen sie in das alte Fabrikgebäude im Weddinger Teil der Ackerstraße, das der TU als Institut für Verfahrenstechnik dient. Die Bionik ist dort angesiedelt; sie ist kein eigener Studiengang, sondern wird als Wahlpflicht mehrerer Fächer angeboten.

Nach den Einsparungen in den vergangenen Jahren harren nur noch Rechenberg und ein paar Assistenten in den weitläufigen Fluren aus; dem Enthusiasmus für das Fach hat das keinen Abbruch getan, im Gegenteil: "Es werden immer mehr Studenten in den Vorlesungen, neulich waren es schon fast 200", beklagt sich Rechenberg. Am liebsten wäre ihm, es wäre endlich ein Nachfolger für ihn gefunden und er könnte sich ausschließlich aufs Forschen konzentrieren.

Die spektakuläre "Radlerspinne" rollte dem Bioniker erstmals vor vier Jahren vor die Füße, als er nachts sein Wüstenlager gerade fertig aufgeschlagen hatte. Er fing die ihm unbekannte Spinne ein, um sie zu begutachten. Leider starb das Tier und wurde anschließend von einem Skorpion verspeist. Rechenbergs Beobachtungen waren damit wertlos. In diesem Sommer hatte er mehr Glück: Bei einer seiner Wüstenwanderungen sah er die Spinne erneut. Er bemerkte, dass das Tier seine acht langen Beine oben auf der Düne zu einem Rad formte und abwärtsrollte. "Die Spinne stößt sich dabei richtig ab, sie ist aktiv in der Bewegung", beschreibt Rechenberg. Er fing das Tier ein, es überlebte.

Wie schon über andere Entdeckungen hat er gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Abdulah Regabi El Khyari einen Dokumentarfilm zu der Expedition gedreht. Mit Sonnenhut und Shorts spaziert er in dem Streifen durch die Wüste, erzählt und erklärt für Laien, spannend wie in der "Sendung mit der Maus". Die Filme verwendet er für Vorlesungen und Vorträge.

"Jeder Biologe wäre schon über die Entdecklung der Spinne wahnsinnig glücklich", sagt er. "Wir aber werden überlegen, wie wir die High-Tech-Lösungen der Natur für uns übertragen können." Ziel sei immer, Systeme zu bauen, die möglichst wenig Energie verbrauchen - Tiere in Extremregionen sind da die idealen Vorbilder. Rechenberg denkt bei Anwendungen der Spinnentechnik etwa an die Entwicklung von Mars-Autos: Es könnten Wagen gebaut werden, die je nach Untergrund rollen oder klettern.

Doch das ist Zukunftsmusik. Mit der Übertragung anderer Entdeckungen ist der Flugmodell-Liebhaber weiter. Rechenberg war in den 50er-Jahren Vizeweltmeister im Modell-Einzelfliegen und Weltmeister in der Gruppenwertung. Vorbild für Training und Bau war der Vogelflug - Bionik im frühen Stadium.

Der gebürtige Berliner studierte Flugzeugbau, beschäftigte sich mit Strömungstechnik. 1973 erhielt er einen Lehrstuhl an der TU, nach einem Umzug sitzt er seit fast zwei Jahrzehnten in den großzügigen Räumen an der Ackerstraße. Im Büro des Professors ziehen sich Bücherregale bis zur Decke. Auf Hockern und Tischchen liegen Unterlagen, am Kopf eines Konferenztisches steht ein Flachbildschirm von Kinogröße; auf ihm spielt Rechenberg seine Filme ab. Das Labor am Ende des Gangs ist ebenso weitläufig - nur chaotischer. An einer Seite flitzen Sandfische durch Terrariumsand, in der Mitte steht ein Windkanal. Versuchsanordnungen verteilen sich kreuz und quer im Raum.

In der Maschinenhalle im Erdgeschoss parkt der Forschungsbus, dort ist auch Platz für Flugversuche mit den Mikro-Air-Vehikeln (MAV) - den Rotorlibellen, Rechenbergs eigentlichem Stolz. Der Minihubschrauber orientiert sich am Flugverhalten von Insekten; ausgestattet mit einer Mobiltelefonkamera kann er ferngesteuert fliegen und heimlich Aufnahmen machen. Damit ist das Gerät für Außen- und Verteidigungspolitiker und für die Nachrichtentechnik interessant. "Auch auf Minister Steinmeiers Handfläche ist das MAV schon gelandet", sagt Rechenberg stolz.

Der agile, erfrischende Mann hat sein Leben in die Forschung gesteckt. Zuhause in Frohnau betreut er Tiere, die er aus der Sahara mitgebracht hat, im Garten beobachtet er heimische Insekten. Geheiratet hat er nie, immer die Freiheit zu forschen genossen. Mit Erfolg: Bionik gilt nicht erst seit Entdeckung der "Radlerspinne" als Aushängeschild der Universität. Ein Traum indes ist dem Professor geblieben. "Ich möchte Straßen bauen, die sich bei einem Riss selbst reparieren." Ob er das noch schafft oder seinem Nachfolger überlässt, findet Rechenberg eher nebensächlich. "Ich bin mir sicher, irgendwann geht das."

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