Das zeozwei-Gespräch mit Juli Zeh: „Das Abendland geht nicht unter“

Die Schriftstellerin Juli Zeh hat mit dem Roman Unterleuten eine großartige Bestandsaufnahme der deutschen Gegenwart vorgelegt.

Ein Protagonist in Zehs Roman kämpfte früher gegen AKWs. Heute kämpft er gegen Windräder in Brandenburg. Bild: dpa

Ein Gespräch über Anti-Teilhabe als neuen Sehnsuchtsort, grüne Atomkraftgegner, die jetzt gegen Windräder kämpfen, und über die Ängste einer hysterischen Gesellschaft.

zeozwei: Frau Zeh, Sie sind vor ein paar Jahren aus Leipzig heraus aufs Land geflohen – warum?

Juli Zeh: Mein Mann und ich wollten eigentlich nach Berlin. Wir hatten niemals dieses „Boah, wir ziehen aufs Land, und dann haben wir Tomaten! “-Gefühl. Aber dann sind wir auf eine Anzeige mit einem klitzekleinen Foto von diesem wunderschönen Haus in Brandenburg gestoßen. Wir haben uns das aus Spaß mal angeguckt, so wie man mal kleine Katzen im Tierheim anguckt. Und es gekauft. Ohne nachzudenken. Das ist mehr so passiert.

Perfekte Idylle?

Nein, es ist nicht im eigentlichen Sinn schön. Es führt eine dicke Straße durchs Dorf. Es ist nicht beschaulich. Menschen, die aus Süddeutschland kommen, sind entsetzt.

Woher kommt die Sehnsucht nach dörflichem Leben, die Sie in Ihrem neuen Roman Unterleuten thematisieren?

Es ist das aussagekräftigste Phänomen dieser Zeit, dass die Menschen dermaßen auf der Flucht sind. Wir erzählen uns die ganze Zeit, wie grauenvoll alles ist, wie bedroht wir sind – und leben in Wirklichkeit im Paradies. Auch in den Städten. Nicht dass es keine Probleme gäbe, aber im Vergleich ist es wirklich Wahnsinn, wie gut es uns in Deutschland geht. Trotzdem sind die Leute in die Enge getrieben und auf der Suche nach einer Insel der Seligen.

Was treibt Menschen in die Enge, denen es eigentlich ordentlich geht?

Die einfache Antwort ist: Die Stadt steht für Geschwindigkeit, für Komplexität, für Fülle und damit auch für Überfülle und Überforderung. Und den Menschen ist einfach alles zu viel. Nicht tatsächlich. Im Kopf. In ihrer Wahrnehmung. Sie hoffen, auf dem Land davon fern zu sein. Interessant wird es, wenn man das Land auch als Metapher begreift.

Wofür steht das Land dann?

Es gibt auch bei denen, die in den Städten bleiben, so etwas wie eine innere Emigration. Ich ziehe nicht um, sondern ich ziehe mich raus. Ich suche meine Orientierung und das, was mich stützt, im allerkleinsten Kreise, in der Familie, bei Freunden. Und ich werde damit auch unpolitisch. Oder bin allenfalls noch in meinem unmittelbaren Umfeld politisch. Und dann auch meist im Sinne einer Verweigerung. Als Opposition gegen das, was passiert, nicht im Sinne gestalterischer Teilhabe.

Geboren am 30. Juni 1974. Aufgewachsen in Bonn. Studierte Juristin (Dr. jur.) und Literatin (Diplom). Lebt in Brandenburg, mit Mann und zwei Kindern. Ihr neuer Roman Unterleuten ist bei Luchterhand erschienen.

Das Schicksal der Menschheit entscheidet sich in den Ballungsgebieten, in die in den kommenden Jahrzehnten weltweit Milliarden drängen. Warum erklären Sie die Welt von einem brandenburgischen Kaff aus?

Wenn wir den Menschen möglichst naherücken wollen, um sie literarisch anzuschauen, dann müssen wir sie an ihren Zufluchtsorten aufsuchen. Wie geht es denen nach der Flucht?

Der Sehnsuchtsort der Chinesen, Inder, Brasilianer ist die Metropole, nicht das Dorf.

Klar, solange Landbevölkerung noch komplett unterversorgt ist, mit Ernährung, Kommunikation, Infrastruktur, geht die Flucht in die Städte, aber nicht, weil es da so schön ist. Es geht ums nackte Überleben. In Wohlstandsgesellschaften wie unserer ist das anders.

Wir wollten früher unbedingt in die Großstadt.

Eben. Als ich mit der Schule fertig war, war in meinem kompletten Umfeld die Ansage: Natürlich in die Städte. Niemand wäre aufs Land gezogen. Da geht es um Identitäten. Das war Ausdruck eines Wunsches nach Teilhabe. Man wollte mitmachen, mitreden, Theater, politische Veranstaltungen. Das hat sich gedreht. Auf einmal ist Anti-Teilhabe der Sehnsuchtsort.

In Ihrem Roman ist einer der Protagonisten, Gerhard Fließ, ein klassischer urbaner Linker, hat die Grünen mitgegründet und gegen Atomkraft gekämpft. Jetzt ist er auf dem Land und kämpft gegen Windkraftanlagen. Was lief da falsch?

Es ist üblich, das Politische als die Frage nach Falsch und Richtig, nach Gut und Böse zu sehen. Man glaubt, man könnte auf der richtigen Seite stehen. Dazu muss man nur bestimmte Ziele verfolgen. Das fühlt sich gut an. Das macht man mit anderen gemeinsam. Das ist Teil der Identifikation. Gerhard wollte eigentlich bis ans Ende seiner Tage Gründungsmitglied der Grünen sein. Aber dann gingen die anderen alle ins Fitnesscenter. So fühlt sich das zumindest für ihn an. Und dann wird man plötzlich persönlich mit einem Problem konfrontiert – mit den Windrädern, die direkt vor dem eigenen Fenster aufgebaut werden sollen.

Was macht man dann?

Man steht vor der Frage: Habe ich meine Prinzipien jemals auch auf mich selbst angewendet? Oder gebe ich nichts her, noch nicht einmal die schöne Aussicht, und fordere immer nur von anderen? Gerhard Fließ steht für den Typus, der sich etwas vorgemacht hat, sein Leben lang. den, Politiker zu verachten, das Parlament als Quatschbude zu bezeichnen, sich schick zu fühlen, wenn man nicht zur Wahl geht. So eine Art wohlfeile Kapitalismusgegnerschaft wird umgewandelt in wohlfeile Politikgegnerschaft im Ganzen. Dafür hätte man unter Brandt nicht so wahnsinnig viel Applaus bekommen.

Er steht für die totale Individualisierung unter simultanem Weltverbesserungsgeschwätz?

Man muss nicht Altruist sein, um politisch sein zu können. Wir haben Interessen, die wir gesellschaftlich durchsetzen wollen. Das ist das Wesen von Demokratie. Allerdings muss man sich dafür in Gemeinschaften zusammenschließen und Kompromisse finden. Die Fähigkeit, uns als Gruppenwesen zu sehen, haben wir in den letzten Jahrzehnten verloren. Sowohl die kapitalistische Leistungsgesellschaft als auch die Ideologienkritik der Postmoderne haben uns zu radikalen Individualisten erzogen. Man muss nur mal gucken, womit die Postbank wirbt: Ich, ich, ich. Entsprechend halten wir nur noch unsere Bedürfnisse für das, was politisch ist und erfüllt werden muss. Das macht uns das Leben so unheimlich schwer.

Was hat der Kampf gegen die Atomkraft gebracht, wenn man nun sagt „Das Windrad nicht vor meiner Haustür!“ ?

Die Umweltbewegung hat es geschafft, keine Bewegung mehr zu sein, sondern eine Selbstverständlichkeit. Da ist niemand mehr, der sagt: Dann stinkt oder strahlt es halt – ist mir doch egal. Dafür müsste man Gerhard als Siegertypen feiern. Das darf man auch nicht dadurch schmälern, dass er in seiner Biografie eine gescheiterte Figur ist, die am Ende auch noch gegen die eigenen Prinzipien verstößt. Das Windrad steht für ihn auf einmal für etwas anderes, für den Infrastrukturwahnsinn einer in die Beschleunigung umgekippten Gesellschaft.

Haben Sie selbst ein ästhetisches Problem, wenn sich ein Windrad am Horizont in der Abendsonne dreht?

Am Horizont finde ich die Dinger ganz schön, aber ich will sie auch nicht vor meinem Fenster haben. Ich würde mich mit Sicherheit wehren und genau wie alle sagen: Sollen sie den Kram doch woanders bauen.

Der Strom kommt ja aus der Steckdose?

Ich persönlich habe das Gefühl: Windkraft ist nicht die Antwort in den nächsten Jahrzehnten. Vielleicht spüren das viele Menschen, und genau das ist das Problem. Aber Gerhard Fließ steht nicht nur für Energiewendeverwirrung, er steht für eine große Mentalitätsverschiebung: eine Haltung, die sagt, dass mich Staat und Gemeinschaft, die für mich sorgen, den Müll holen, die Straßen asphaltieren, dass mich das als Ganzes nicht mehr interessiert. Wer so denkt, verweigert im Grunde alles, was mit mehr Welt als dem Dorf zu tun hat. Das ist in der reinsten Form apolitisch. Gegen die Polis, gegen das Gemeinwesen.

Gab es in den Siebzigern mit dem seligen Willy Brandt wirklich eine höhere Politisierung der Gesellschaft?

Womöglich nimmt über das Internet heute eine viel größere Zahl von Menschen am Diskurs teil. Auffällig ist aber die Haltung der intellektuellen Eliten. In den letzten Jahren ist es modern geworden, Politiker zu verachten, das Parlament als Quatschbude zu bezeichnen, sich schick zu fühlen, wenn man nicht zur Wahl geht. So eine Art wohlfeile Kapitalismusgegnerschaft wird umgewandelt in wohlfeile Politikgegnerschaft im Ganzen. Dafür hätte man unter Brandt nicht so wahnsinnig viel Applaus bekommen.

Die schlimmsten Leute sind nicht die bösen, sondern die, die sich im Recht wähnen, sagen Sie. Der Schriftsteller und Friedenspreisträger Navid Kermani spricht im Flüchtlingszusammenhang von einem „kulturellen Überlegenheitsdiskurs“ des Westens.

Wie entstehen aus dem Sich-im-Recht-Fühlen Konflikte und Verbrechen? Das ist die Frage, die mich mehr interessiert als die ideologische. Wir sind sehr stark an die Begriffe von Gut und Böse gebunden. Als gäbe es diesen Grundunterschied.

Gibt es nicht?

Es gibt nur ganz wenige Menschen, die von sich glauben, böse zu sein. Es gibt auch nur ganz wenige, die sich für das Böse entscheiden. Menschen entscheiden sich grundsätzlich immer für das Richtige. Also dafür, was sie für das Richtige halten. Unrecht ist womöglich die Summe von ganz viel Recht und nicht das Ergebnis von jemandem, der tatsächlich etwas Böses wollte.

Einen Ihrer Protagonisten beschreiben Sie im Buch damit, dass er „Richtig und Falsch ohne fremde Hilfe auseinanderhalten“ kann und ihn darum auch das Dosenpfand nicht interessiere. Welche Regeln von der Politik braucht es dann?

Anarchie funktioniert nicht. Würden wir alle versuchen, individuell zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden, würde das im Chaos enden. Das Verrückte ist, dass wir uns einer Menge von Menschen gegenüber sehen, die der Politik nichts mehr zutrauen. Sie meinen, dass das wertlos ist, was beim demokratischen Prozess am Ende rauskommt. Das macht mir Angst.

Was halten Sie von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frau Zeh?

Seit August letzten Jahres bin ich eine von Merkels größten Fans. Davor war ich eine der größten Kritikerinnen.

    Warum?

    Jahrelang habe ich ihr vorgeworfen, dass sie für nichts steht, nichts bewegt und ihr Fähnchen nach dem Umfragenwind hängt. Und plötzlich zeigt sie in der Wir-schaffen-das-Krise eine Prinzipientreue, die von weniger freundlichen Beobachtern sogar als Geisteskrankheit bewertet wird. Zurzeit würde ich der Kanzlerin am liebsten jeden Tag auf die Schulter klopfen. Nicht, dass sie darauf angewiesen wäre. Das hat George Clooney ja auch erst neulich gemacht.

    Müsste sie einen konkreten Fünf-Punkte-Flüchtlings-Plan haben, um darzustellen, dass sie die Lage im Griff hat?

    Nichts würde die Lage im Handumdrehen bessern. Es gibt nichts, was man ihr sagen könnte: Mach doch das – und dann wird es viel besser.

    Bestehen Sie darauf, dass es keine Begrenzung für Flüchtlinge geben darf, weil Deutschland eine offene Gesellschaft ist?

    Die Flüchtlinge kommen nicht, weil Angela Merkel sie eingeladen hat, sondern weil sie aus ihren Ländern weg müssen. Wir müssen sehen, dass die alle ein Dach über dem Kopf und was zu essen haben, dass sie ihr Asylverfahren bekommen und möglichst arbeiten und auch die Sprache lernen können, sofern sie bei uns bleiben. Womöglich brauchen wir auch noch mehr Polizei, weil es zu Problemen kommen könnte. Darum geht es.

    Sie verweigern die Debatte, wie offen eine Gesellschaft sein kann?

    Die Grenze eines Gebiets in der Größe Europas lässt sich faktisch nicht schließen. Wir müssen aufhören zu glauben, wir müssten jetzt entscheiden, ob wir eine offene oder eine geschlossene Gesellschaft sind, ob Frau Merkel das Land zerstört oder die Zukunft rettet. Wir müssen uns alle einfach beruhigen. Die Kirche wieder ins Dorf zurücksetzen.

    Zugezogene und Einheimische – das funktioniert nicht mal in Ihrem Roman: Die Berliner, die in das Dorf Unterleuten ziehen, sind selbstgerecht und arrogant. Das Leben dort wird für alle zur Hölle. Manche Menschen können schlecht mit Fremdem umgehen, es gibt Angst. Was macht man damit?

    Ich ertappe mich selber bei dieser Angst. Gehe ich nachts allein durch die Stadt und stelle auf einmal fest, dass eine Gruppe nordafrikanisch aussehender Männer denselben Weg nimmt, fühle ich mich unbehaglich. Und dann frage ich mich, ob das bei blonden Männern im Nadelstreifenanzug auch so wäre. Nein, wäre es nicht. Dann denke ich: Mädel, spinnst Du? Diese Angst ist total menschlich. Sie lässt sich auch nicht einfach ausknipsen. Aber sie lässt sich aushalten.

    Das kann man aber nicht anordnen.

    Ich kann vom Diskurs derzeit nicht viel verlangen, der ist überdreht, überhaupt nicht nützlich und einfach so rausgeplatzt. Jahrelang durfte man nicht ausländerfeindlich sein. Ich will damit nicht sagen, dass ich Ausländerfeinde gut finde. Aber als Folge des Holocaust haben wir die Debatte unterdrückt. Wir haben ein Nachholbedürfnis, uns klar zu werden, was für eine Gesellschaft wir sein wollen, können oder müssen.

    Also wollen Sie doch eine Debatte.

    Das können wir gerne entscheiden in den nächsten fünfzig Jahren, in einem sehr langen und interessanten Diskurs, aber nicht jetzt innerhalb von ein paar Tagen. Probleme sind normal. Das ist nicht schlimm. Man darf Angst haben. Aber es bedeutet nicht, dass das verdammte Abendland untergeht.

    Aber wie geht es jetzt weiter? Als Bestandsaufnahme ist Ihr Roman grandios, aber am Ende scheitern alle. Der Kapitalist ist tot. Der Kommunist ist tot. Die Fremden hauen wieder ab.

    Da wird ein Epochenende beschrieben. Die beiden großen politischen Blöcke, Ost und West, sind lange untergegangen. Aber bis heute haben wir uns mit den Nachbeben beschäftigt. Damit sind wir jetzt so langsam fertig. Das ist auch ein Grund, warum wir so wahnsinnige Angst haben. Wir wissen nicht, was danach kommt. Deswegen streiten wir so gerne über offene und nicht offene Gesellschaft. Das ist ein Stellvertreterkrieg für diese krasse Zukunftsangst, der wir ausgesetzt sind.

    Die Zukunft kann nur schlechter werden, ist das allgemeine Gefühl?

    Genau. Das ist es, was viele eigentlich möchten: Den Istzustand verwalten und jede Form von Veränderung und Entwicklung einfach ablegen. Wir haben nicht nur den Kommunismus als Gesellschaftsform verabschiedet, sondern mit ihm auch sämtliche Ideen von Alternative zum Bestehenden. Wir kennen nichts mehr, was wir utopisch verfolgen könnten. Menschen, die keine Vision haben, entwickeln wahnsinnige Angst vor der Zukunft. Denn wir sind simpel strukturiert. Entweder wir glauben, in Zukunft wird alles toll, oder wir glauben, es wird ganz schrecklich. Visionen sind dafür da, den Wird-super-Glauben zu garantieren. Ohne sie werden wir zu Apokalyptikern.

    Wir sind nun einmal Teil einer Gesellschaft – für die sowohl Merkel als auch der Grüne Winfried Kretschmann stehen –, der es um Errungenschaftskonservatismus geht: Das Gute bewahren.

    Darauf lässt sich aber keine Identität stützen. Wir haben keine Antwort auf Fragen wie: Was machen Menschen eigentlich, wenn sie nicht von morgens bis abends Hunger leiden, gefoltert oder ins Gefängnis geworfen werden? Was machen Menschen, wenn es ihnen okay geht? Sind die in der Lage, sich als Mensch zu fühlen, als Gemeinschaft, einander zu lieben? Sich Hilfe zu leisten? Oder gibt es uns nur als nach dem Besseren strebende Wesen?

    Sie sind selbst eine Errungenschaftskonservative. Stand zumindest im Managermagazin. Warum?

    Die Leute haben unglaubliche Angst vor der Zukunft. Und ich habe Angst vor dieser Angst. Mein Impuls ist deshalb zu sagen, liebe Leute, es geht uns gut, unser System funktioniert, schaltet mal einen Gang zurück, wir haben wahnsinnig viel erreicht, jetzt freuen wir uns darüber, fühlen uns wieder ein bisschen sicherer und schauen entspannter in die Zukunft. Einstweilen ohne Utopie und ohne Apokalypse.

    Oder wir erfinden ein paar neue Visionen.

    Das Verrückte ist, dass wir im zwanzigsten Jahrhundert ganz schmerzhaft erfahren mussten, was für einen unfassbaren Schaden Utopien anrichten können. Deshalb haben wir uns ein halbes Jahrhundert bemüht, das alles runterzubrechen auf das Individuum – als Versicherung gegen Massenwahn.

    Bedingungslose Egozentrik statt kollektiver Wahnsinn?

    Wir haben einfach die aus der Individualisierung folgenden Fragen noch nicht beantwortet. Was ist der Mensch als Einzelwesen, jenseits von Religion, politischer Ideologie oder patriarchaler Großfamilienstruktur? Sind wir als Identitätswesen überhaupt möglich in dieser Form von Ein-Mann-Freiheit? Warum werden wir denn jetzt auf einmal alle krank, haben Burnout und Stress, wollen nur noch weg von der Gesellschaft, lesen die Landlust? Weil uns diese Form von Freiheit überfordert. Es ist der Wunsch, nur noch mit dem zu tun zu haben, was ich unmittelbar vor mir habe, nicht mehr mit der Abstraktion. Wir wollen gucken, wie der Weizen wächst, dann wissen wir, was als Nächstes folgt.

    Was?

    Ähren.

    Man könnte auch argwöhnen, die wahren Landlustpublikationen sind die Qualitätsmedien, in denen moralische Illusionswelten verfolgt werden, die mit Menschen, wie sie wirklich sind, überhaupt nichts zu tun haben.

    Das ist so gemein, was Sie da sagen. Ihre Prämisse ist schon infam. Als hätten Leute, die im Boden kratzen, mehr Recht auf das Attribut Mensch als ein Intellektueller. Als gäbe es echte Menschen und unechte Menschen. Schriftsteller wie Kermani oder Künstler wie Ai Weiwei: Sind das keine echten Menschen?

    Sie lassen doch Ihre Figur Linda in Unterleuten den intellektuellen Leitartikelschwurbler vernichten, der komplizierte Argumentationen entwickelt, um eigene Defizite dem System anzulasten.

    Ich glaube an wenig Dinge, aber ich glaube an die Bedeutung von intellektuellem Diskurs, auch an die Gefahren, aber vor allem an die Bedeutung. Es ist wichtig, über die Welt nachzudenken. Meine Figuren sind ja Produkte einer Welt, die sie verabscheuen, das ist ein dialektisches Knäuel. Wir brauchen Kultur, auch Menschen brauchen Kultur, die nichts darüber wissen.

    Ihre 30-Jährigen in Unterleuten haben kein Weltnachdenkbedürfnis und keine Ziele außer Kinder, Pferde, Selfies und Computerspiele.

    Ja, da ist wenig in Sicht. Denken tun in Unterleuten nur die Alten.

    Die heimliche Autorin des Romans, eine freie Journalistin, sitzt in einer Szene im Café in Berlin-Kreuzberg und tut so, als schriebe sie einen Text für die Wochenend-taz. Dabei hat sie gar keinen Auftrag. Eine hoffnungslose Kreuzberger Durchhängerin?

    Jetzt schießen Sie wieder gegen die Sehnsucht nach Intellektualität. Man kann das doch rührend und tragisch finden, was Lucy da macht, man muss das nicht abwerten. Ist es nicht großartig, dass jemand kaum in der Lage ist, seinen Milchkaffee zu bezahlen, weil er so dringend teilnehmen möchte an diesem Diskurs, der so viel verspottet wird? Von dem es immer wieder heißt, er sei nur Elfenbeinturm.

    Warum tut diese Lucy das?

    Ich würde sagen: Sie tut das, weil sie fest an das glaubt, was Demokratie in ihrem Wesen ausmacht. Nämlich drüber reden. Über alles. Und da will sie mitmachen. Die taz sollte stolz auf Leute wie Lucy sein.

    Das Gespräch führten die zeozwei Chefredakteur_innen Hanna Gersmann und Peter Unfried.

    Gerne können Sie das Interview auf unserer Facebook-Seite diskutieren.

    In dem staats- und wirtschaftsverlassenen Dorf Unterleuten in Brandenburg soll eine Windkraftanlage gebaut werden. Jetzt ist die Frage: Verhindern oder davon profitieren? Es treten an: Der Kapitalist Gombrowski und der Sozialist Kron, beide seit DDR-Zeiten verfeindet. Der zugezogene Westlinke Gerhard Fließ, der Berlin und die Uni verlassen hat, um Vogelschützer zu werden und mit seiner Exstudentin Jule Fließ-Weiland Kleinfamilie zu leben. Die zugezogene Pferdehalterin Linda Franzen mit ihrem schluffigen Lebensgefährten aus der IT-Branche. Ein Westunternehmer auf Beutezug.

     

    Die Westler fliehen vor den Zumutungen der Moderne aufs verlassene Land, die eingeborenen Ostler schaffen den Absprung nicht. Ist Gombrowski ein Wohltäter oder eine über Leichen gehende Drecksau? Tritt Kron unbeirrbar für die gemeinsame Sache ein oder ist er komplett abgedreht? Jeder denkt sich was. Keiner prüft nach. Aus jeder Perspektive sieht die ganze Geschichte völlig anders aus. Jeder beansprucht das Gute für sich und unterstellt dem anderen das Böse. Am Ende des Romans sind fast alle Protagonisten erledigt, das Dorf sowieso. Die Windkraftanlage wird gebaut. Aber Zukunft ist nicht in Sicht.