„Ich habe so viel im Netz gelernt“

PORTRÄT Jon Rafman stellt in der Schöneberger Future Gallery seine Videos über Internet-Subkulturen vor. Der Künstler versteht sich nicht als Hacker, er verwendet die Technologie vielmehr als Readymade

■ geboren 1981 in Montreal, studierte Kunst an der School of the Art Institute of Chicago (M. F. A.) und Philosophie und Literatur an der McGill University (B. A.). In seinen Arbeiten beschäftigt sich Rafman mit Technik und digitalen Medien und deren Auswirkungen auf Menschen. Bekannt wurde er mit seinem Projekt „9eyes“ (9-eyes.com/), in dem er Fotos von Google Street View verwendet. Auch Google Earth und Second Life dienen ihm als Materialquelle. Rafman lebt derzeit in Montreal.

INTERVIEW TILMAN BAUMGÄRTEL

Eine Computertastatur, übersät mit Zigarettenstummeln und Asche, Limoflaschen, Dreck, eine verstaubte Maus, dahinter ein altmeisterliches Landschaftsgemälde – dieses Bild hängt im größten Raum der Ausstellung, die der kanadische Künstler Jon Rafman (zusammen mit Christian Jankowski) derzeit in der Schöneberger Future Gallery hat. Rafman, ein Künstler mit einem Bachelor in Philosophie, beschäftigt sich mit den sozialen Auswirkungen des Internets. Das Bild des versauten Keyboards deutet die Richtung seiner künstlerischen Recherche an: Ihm geht es um die Subkulturen, die das Internet möglich gemacht hat. Es ist die Welt der Netz-Süchtigen und -Verwahrlosten – also letztlich von uns allen. Als Netzkünstler sieht er sich darum nicht und erklärt im Interview, warum.

taz: Herr Rafman, die Netzkunst der 90er Jahre beschäftigte sich mit den technischen Protokollen des Mediums Internets. Sehen Sie sich als Hacker, wie viele der frühen Netzkünstler?

John Rafman: Nein. Mich interessiert, wie die Menschen Technologie benutzen. Statt eine Art Hackerexperte zu werden, der die Strukturen von Technologie offenlegt und so zur Befreiung der Menschen beiträgt, betrachte ich die Systeme von Machtausübung und Ausbeutung auf einer abstrakteren Ebene – da, wo die gesellschaftlichen Konflikte stattfinden. Ich benutze die Technologie so, wie die Massen es tun. Bei meinen Videospiel-Arbeiten spiele ich die Games so, wie ein ganz normaler User es tut, und schneide daraus Essayfilme im Stil von Chris Marker zusammen. Ich verwende die Technologie als Readymade. Ich mache immer noch Filme, das ist der Kern meiner Arbeit. Aber die sind zunehmend von Google Image Search und Second Life und Computerspielen und der Blogszene geprägt, besonders 4Chan.

Die formative Periode der „klassischen“ Netzkunst war die zweite Hälfte der 90er Jahre. Sie haben um 2010 mit der Arbeit „9eyes“ auf sich aufmerksam gemacht, die Szenen aus Google Street View wie klassische Street Photography präsentiert.

Ich gehöre zur zweiten oder vielleicht sogar dritten Generation von Netzkünstlern, und diese Generation fetischisiert den Akt des Internetsurfens. Unsere individuelle Art zu surfen schlägt sich in den Arbeiten nieder, die wir schaffen. Man kann einfach nicht abstreiten, dass man einen großen Teil des Tages mit Internetsurfen verbringt. Und was man konsumiert, hat Einfluss darauf, was man macht. Die Künstler meiner Generation sind mit dem Internet aufgewachsen. Wir haben unsere späte Kindheit und unser frühes Erwachsenenalter im Netz verbracht. Wir waren wahrscheinlich noch keine vollkommenen „digital natives“. Aber viele unserer grundlegenden Erfahrungen haben online stattgefunden. Das war vielleicht nicht mehr ganz so neu wie in den 90er Jahren. Das Web 2.0 kam zu dieser Zeit gerade auf. Aber das Internet begann zu dieser Zeit, die Gesellschaft zu infiltrieren, und das war das Aufregende daran.

Das Web 2.0 hat es für normale User einfacher gemacht, zu Web-Produzenten zu werden …

Das Web 2.0 hat Lernprozesse beschleunigt. Ich habe so viel im Netz gelernt. Und damit meine ich nicht nur Hochkultur und Kunst, sondern auch all diese Subkulturen, diese merkwürdigen neuen Jargons, die sich im Netz herausgebildet haben.

Sie haben 4Chan als Einfluss erwähnt – viele würden das als das Schlimmste betrachten, was das Internet hervorgebracht hat. Und das Video „Still Life (Beta Male)“, das sie für Oneohtrix Point Never gemacht haben, als die Apotheose dieser Art von Trash.

Ein Aspekt von 4Chan ist der Schock-Humor. Der ist weniger Ausdruck einer bestimmten Geisteshaltung, sondern eine Methode, um einen zu trollen. Ich finde solche Subkulturen interessant, weil sie zu den letzten Orten gehören, wo noch der anarchistische Geist des frühen Internets herrscht. Bei 4Chan ist alles anonym und nichts wird archiviert, und darum ist es zu einem Ort für frustrierte Teenager geworden. Für weiße, männliche Kellerhocker, die für mich zu den Grundfesten des Webs gehören. Viele der bekanntesten Internet-Memes kamen aus dieser Quelle. Ich glaube, der Grund dafür war diese vollkommene Freiheit. Die Möglichkeit, einfach alles zu sagen und diese neuen Sprachen entstehen zu lassen.

Aber bei 4Chan scheint es nur darum zu gehen, die Betrachter durch immer noch fürchterliche Bilder zu schockieren.

Oft ist das absolut entsetzlich. Ich klopfe diese Orte nicht darauf ab, ob sie ethisch korrekt sind. Was mich interessiert, ist: Was offenbaren sie über unsere gegenwärtige Gesellschaft? Ich denke, dass diese Art, die Welt zu betrachten, die logische Konsequenz davon ist, was Tag für Tag im Netz passiert. Alles ist auf Nullen und Einsen reduziert; alles ist letztlich gleich, einfach nur Daten. Die Tatsache, dass ein entsetzliches Bild des Holocaust neben ein Bild von Jean Claude Van Damme und ein Pornobild gesetzt wird, reflektiert die gegenwärtige Situation auf eine kristallklare, scharfsinnige Weise. Ich versuche als Künstler, mir das anzusehen, nicht wegzugucken. Manche meiner Arbeiten feiern diese Kultur, manche kritisieren sie. Besonders meine neueren Arbeiten haben eine zynische Note – nicht vollkommen zynisch allerdings, weil ich immer nach dieser seltsamen Art von Schönheit suche, die in solchen Subkulturen gelegentlich entsteht.

■ Bis 13. Juni in der Ausstellung „Field Vision“. Future Gallery, Keithstraße 10, Do.–Sa. 13–17 Uhr