Mein Schlüssel zum Alltag

ERINNERUNGEN Musik aus Algerien und Mali hat Claus Leggewie sein halbes Leben lang begeistert und begleitet. In seiner Autobiografie setzt der Politologe sie ins Verhältnis zur politischen Realität dort

Begleitet hat mich in Algerien die Musik, aber auch sie deutete immer wieder auf soziale und politische Konflikte hin. Das galt ganz besonders für A vava inou va (etwa: Mein verehrter Papa), eine 1976 von dem kabylischen Sänger Idir eingespielte Platte, die damals nur unterm Ladentisch zu erwerben war – für stolze 75 algerische Dinar, fast ein Wochenlohn.

Pierre Bourdieus Sociologie de l’Algérie von 1957, während seines Militärdienstes verfasst, hatte mich mit den berberischen Kabylen vertraut gemacht. Zwanzig Jahre später war für ethnische Minderheiten in der nationalen Selbst(er)findung Algeriens kein Platz mehr. Vor allem die Kabylen, die die Hauptlast des Befreiungskriegs getragen hatten und sich nach der Unabhängigkeit von der arabischen Zentrale vernachlässigt fühlten, verschafften sich als Fans Gehör bei Fußballspielen der Jeunesse Eléctronique, des viermaligen algerischen Fußballmeisters von Tizi-Ouzou, der Werksmannschaft eines Elektrounternehmens. Breiter verankert war die Folkmusik, deren Texte im berberischen Tamazight verfasst waren, das damals im Einheitsstaat Algerien offiziell so wenig geduldet wurde wie das Kurdische in der Türkei. Und ebenso wie die Kurden in der Türkei gegen die Armee und die Islamisten bildeten auch Berber eine dritte Kraft gegen die algerischen Militärs und die Frommen, die oft genug gemeinsam die zarten Keime der société civile zertrampelten.

Da ich für einen ethnografischen Zugang sonst wenig Zeit und Gelegenheit hatte, wurde Musik mein Schlüssel zum algerischen Alltag. A vava inou va war das Werk von Idir, einem unscheinbar wirkenden Geologie-Ingenieur, der sich das Haar hippielang wachsen ließ. Der Titelsong, eigentlich ein Wiegenlied für Kinder, schlug ein und wurde ein Hit, auch wenn er niemals im Radio kam. Er fungierte als inoffizielle Nationalhymne und ist es immer noch, wo sich Kabylen in Tizi-Ouzou, Algier oder Paris versammeln.

An diesem Beispiel lässt sich demonstrieren, wie World Music funktioniert: In den 70ern gab es eine Musik-Internationale der Regionalismen, in der Bretagne und in Katalonien, in der Languedoc und in Irland und ebenso in der Kabylei. Das einigende Band war das „Keltische“, das musikalisch auch bei Idir (oder Matoub Lounès) anklingt und ganz unwahrscheinliche transregionale Verbindungen eröffnete. Damit kam A vava inou va in die Regale der Plattenläden in den Metropolen, erreichte die Auswanderer in Europa, tönte via Kassette und Fernsehen zurück nach Algerien und wurde schließlich ein globaler Ohrwurm.

So unpolitisch die Hörerschaft insgesamt sein mochte: Die musikalische Bewegung begleitete einen neuen politischen Umbruch. Algeriens Jugend, die bald vierzig Prozent der Gesamtbevölkerung bildete, war großteils arbeitslos, aber dank dieser Musik nicht mehr sprachlos. Diese verlorene Generation feierte dann vor allem den Rai, der in den 90er-Jahren als algerische Weltmusik die Diskotheken erobern sollte.

Rai ist ein Flickwort wie das englische Yeah und kann vieles bedeuten: spontaner Einfall, starke Meinung, weiser Ratschlag. Im 19. Jahrhundert hatten Hirten eine einfache Flöten- und Trommelmusik nach Oran mitgebracht, vornehmlich weibliche Interpretinnen entwickelten sie weiter. Gespielt wurde Rai zu Hochzeiten und auf Familienfesten, in Bars und Bordellen. Es ging um Liebe, Sex, Eifersucht und um alles, was man auch im freieren Oran nicht aussprechen durfte: Trunksucht, Rausch, weibliche Erotik. Für den Musikjournalisten Frank Tenaille, den ich später in Arles kennenlernte, ist Rai die wichtigste Neuerung in der populären arabischen Musik seit Umm Kulthum und der ägyptischen Unterhaltungsmusik der 30er- und 40er-Jahre.

Bei dem Soziologen Alfons Silbermann in Köln hatte ich gelernt, dass der strengen, gebildeten Musikform stets volksnahe Variationen korrespondieren. Klassisch hieß: langsamer Rhythmus und breite Intonation, wohlgesetzte Worte, strenge Regeln für ein ausgesuchtes Publikum im Konzertsaal und zu offiziellen Festen. Chaabi (Volksmusik) und Rai waren von allem das Gegenteil: vulgär, schnell, hedonistisch, antiautoritär, verboten (und elektrisch verstärkt). In den Hafenbars der Kolonialzeit wurden der spanische Flamenco und Chansons aus dem Mutterland zu einem mediterranen Hybrid verschmolzen. Musik trieb den Aufstand von 1945 bis 1962 voran, nun bewegte sie die schleichende Jugendrevolte.

Die Machthaber verordneten dagegen „Arabisch-Andalusisch“, eine Art algerischer E-Musik. Sie bestanden darauf, dass die maghrebinische Hochkultur nicht in den Kaschemmen von Oran wurzelte, sondern in Sevilla, Córdoba und Granada und damit in der Blütezeit des Islam im späten Mittelalter. Postkolonial sollte das die politisch korrekte Tradition darstellen.

Algerische Musik, ganz gleich welcher Dignität, fasziniert durch Trommelschläge, Flötenläufe und Violinschmalz, Oud-, Gitarren-, Akkordeon- und Klavierpassagen. Und die Vierteltöne, ein starker Drive, das Wechselspiel der Vokalisten mit dem Orchester und die Improvisation wirken auch in einer Pariser oder Frankfurter Disko.

In El Gusto, dem Film der Algerierin Safinez Bousbia, erlebt man die rührende Zusammenführung ergrauter Chaabi-Musiker nach Art des Buena Vista Social Club, die rund ums Mittelmeer verstreut waren. Vor der Kamera lassen sie die Unterhaltungsmusik der 50er-Jahre aufleben, an der die Pieds-Noirs, die „Schwarzfüße“ genannten Siedler, ebenso mitwirkten wie Befreiungskämpfer, die Moudjahedines. An ihrem Lebensabend haben Muslime und Atheisten, Christen und Juden mit einer Träne im Augenwinkel wieder zusammen musiziert, endlich auch in den großen Konzertsälen von Marseille und Paris.

Mali hat mich vor allem über seine Filme, dann über seine Musik und nicht zuletzt als Beweis der Möglichkeit von Demokratie in einem bitterarmen Land fasziniert. Malis Filme dokumentieren alle schwierigen Verhältnisse in dem Sahel-Land, sie präsentieren die Menschen jedoch voller Sympathie und Respekt, auch mit großem Humor, und man konnte den Eindruck bekommen, das Land ein wenig zu kennen. Noch präsenter wurde Mali mir durch seine musikalische Tradition und Produktion.

Ich erspare mir die Aufzählung der vielen Griot-Sänger und erwähne nur einige Frauen: Rokia Traoré, Oumou Sangaré, Fatoumata Diawara, die den Mädchen und Frauen gegen die Patriarchen und Alltagsmachos Mut machen. Westafrikanische Musik hat den Weg in sämtliche Weltmusikregale gefunden und ist in allen Diskos und Radiostationen der Welt präsent.

Auslöser des Booms war die Eisenbahngesellschaft Malis, als sie nach der Unabhängigkeit ein Bahnorchester namens „Super Rail Band“ gründete, das mit einer Mischung aus Mandinké-Klängen, kongolesischer und kubanischer Tanzmusik und Swing an der Buffetbar des Bahnhofs in Bamako aufspielte. Die späteren Weltstars Salif Keita und Mory Kanté stammen aus dieser Band.

Wie zu erwarten war, haben die Islamisten, die sich im April 2012 der Nordprovinzen Malis bemächtigten, nicht nur Bilder, sondern auch diese Klänge verboten. Per Dekret erklärten sie jede Form von Musik zum Werk des Satans, an ihre Stelle sollte die Rezitation von Koranversen treten. Um dem Nachdruck zu verschaffen, tauchten Milizen in Kidal auf, der Heimat der bekannten Tuareg-Band Tinariwen, sie bedrohten die Familien der Bandmitglieder und zerstörten sämtliche Instrumente. Der in Saudi-Arabien zum Salafismus konvertierte Iyad Ag Rhali, Anführer der Tuareg-Revolte von 1990, hatte früher selbst Musik gemacht und komponiert, mit Tinariwen abgehangen, geraucht und getrunken. Nun befahlen er und seine Genossen von Ansar Dine, die Musik müsse aufhören. Keiner solle mehr auf den Straßen tanzen, es dürfe keine Party mehr stattfinden, niemand solle öffentlich Freude empfinden. Die Zerstörungswut der Milizen, die den Koran genauso banausenhaft auslegen wie die Musik, richtete sich auch gegen die als Welterbe deklarierten Lehmbauten der Moscheen, Bibliotheken und Schulen im Land. Mali sollte zum Erliegen kommen.

Ausfallen muss seit 2013 auch das legendäre, jeweils im Januar bei Timbuktu stattfindende Festival au Désert, für dessen Besuch ich mich endlich anmelden wollte. Es wurde nach Ouagadougou, in die Hauptstadt des Nachbarlands Burkina Faso, und nach Marokko verlegt; Bono, der im Jahr davor selbst teilgenommen hatte, wollte Malis Musik auf jedes Festival der Welt bringen, um den militärischen Sieg der Islamisten in eine moralische Niederlage zu verwandeln.

Bei den frühen Wüstenfestivals hatten Tuareg-Gruppen ihre Rebellion gegen einen malischen Staat erklärt, von dem sie sich nie einbezogen fühlten und gegen den sie seit den 90er-Jahren mit Unterstützung Ghaddafis zu Felde zogen. Ein wichtiges Medium waren hier Musik und Poesie, die auf Audiokassetten unter die Leute gebracht wurden und kostenlos von einer Hand in die andere wanderten. Nicht zuletzt unter dem (ambivalenten) Label Weltmusik haben sich die Interpreten professionalisiert, heute spielen sie nicht mehr umsonst auf den großen Bühnen der Welt.

Ziel der rebellischen Tuareg war und ist die Gründung eines unabhängigen Tuareg-Staates Azawad, der die von den ehemaligen Kolonialherren wie mit der Aktendeckelkante gezogenen kolonialen Grenzen überwindet und damit die Integrität gleich mehrerer postkolonialer Staaten angreift.

Unter weitgehendem Ausschluss der Tuareg haben Ende 2013 Wahlen stattgefunden, aber die staatliche Ordnung nur formal wiederhergestellt. Zu viele auswärtige Akteure – außer den Franzosen China, die Golfstaaten und Marokko – mischen sich in der Sahel-Region ein, von wo ein großer Teil der Flüchtlinge stammt, die über das Mittelmeer in den reichen Norden gelangen wollen.

■ Auszug aus: „Politische Zeiten. Beobachtungen von der Seitenlinie“. Bertelsmann, Gütersloh 2015, 480 S, 24,99 Euro