einen versuch legen
: Ökonomischer Fatalismus

DETLEV CLAUSSEN darf nach seinem Herzinfarkt endlich wieder ins Stadion. Was neben ihm sitzt, ist gar nicht gut für seine Gesundheit

„Darfst du denn überhaupt wieder zum Fußball?“, fragten meine Freunde nach meinem Herzinfarkt im Juni 2008, den ich nach einer Fernsehdiskussion zur Fußballeuropameisterschaft erlitten hatte. Böse Zungen behaupteten, ich hätte mich so sehr über das antikapitalistische Getue des St.-Pauli-Präsidenten Corny Littmann geärgert, dass mein Blutkreislauf anschließend versagt hätte. Stimmt zwar, dass die Billigkritik am Turbokapitalismus, der angeblich den Fußball beherrsche, gegen den dann die braun tragende, mit Steuergeldern reformierte Provinzidylle Millerntor gepriesen wird, einem wehtun kann, aber die wirklich gefährlichen Herzkrankheiten sind nach Pearl S. Buck „Neid, Hass und Geiz“ – nicht Dummheit.

Live-Fußball tut nicht nur meinem Herzen gut: Adrenalin wird ausgeschüttet, die Dopamine tun ihr Werk, die Gefäße erweitern sich, und auch das Hirn läuft wieder auf Hochtouren. Dienstag voriger Woche konnte ich endlich wieder im Weserstadion Platz nehmen, um mir Werders diesjährige Champions-League-Premiere gegen Famagusta anzuschauen. Ein solches Gemauer habe ich seit Walter Ulbricht nicht mehr gesehen; aber – man muss zugeben – geschickt gemacht.

Wirklich geärgert habe ich mich mal wieder über die Bremer Zuschauer. Das Ticketroulette CL hatte mich diesmal an den Rand der Haupttribüne verschlagen, mitten in das zum Teil immer noch rauchende, mit nach jedem Bier glasiger blickende Bremer Mittelschichtspublikum. Früher, in der Zeit als in den Sechzigerjahren Werder-Fan wurde, war die Haupttribüne ein Platz hanseatischer Honoratioren; der Rest bestand aus einer schweigenden Masse von Werftarbeitern und Bauern, die erst, wenn Werder mit dem Rücken zur Wand stand, mit Glaube, Liebe, Hoffnung im Herzen „Werder, Werder“ riefen. Das Publikum hat sich mit fünf CL-Teilnahmen in Folge verändert.

Unter den Zuschauern hat sich ein ökonomischer Fatalismus breitgemacht: Wer ist der beste Owner für meinen Club? Gerade am Ende der neoliberalen Ära wird es sich als ein Problem erweisen, widerstandlos in den Fängen des Finanzmarkts sich zu befinden. Wie auf dem Finanzmarkt selber bedarf es genau formulierter Rahmenbedingungen. Das fängt mit der fußballerischen Kinderarbeit an, geht über den ausbeuterischen Import von Spielermaterial bis zum Mehrfachbesitz von Clubs, die dann nationale und internationale Wettbewerbe manipulieren.

Aber das ist eine politische Frage, nicht eine quantitative der größeren Geldmacht, wie Rummenigge und Littmann es stereotyp wiederholen. Die neue Mentalität unter den Konsumenten des Spitzenfußballs setzt sich zusammen aus einer falschen Ehrfurcht vor dem großen Geld, einem ebenso verkehrten Stolz auf die eigene Mannschaft, die nicht als Objekt der Liebe, sondern des Prestiges behandelt wird. Der Zuschauer fantasiert sich in die Rolle des Trainers; auch ich trage eine grüngraue Coachmütze abwechselnd zur Doublecap von 2004. Aber die Zuschauer, die neben mir ab der zweiten vergebenen Torchance von Pizarro meckern, haben schon am Ende auf König Otto zu schimpfen begonnen, weil er statt des Europapokals der Pokalsieger nicht den der Landesmeister gewonnen hat: Größenwahn von Gernegroßen.

Das ist nicht gut für mein Herz. Schon ist die Ostkurve fast allein mit ihrer Anfeuerung. Werder kombiniert ballsicher auf engstem Raum; aber der Ball will nicht rein. Diese allmächtigen Besserwisser kommen bei den Einwechslungen erst richtig in Topform. Almeida, hätte schon längst verkauft werden müssen, und Sanogo, warum wurde der überhaupt gekauft? Man muss sich nur an das letzte Jahr erinnern, als ohne den gesperrten Diego Sanogo den Siegtreffer im besten Spiel der Saison gegen Real erzielte – vielleicht eine der schönsten Angriffsaktionen, die ich in fast 50 Jahren als Zuschauer gesehen habe. Das Wunder von der Isar vier Tage später, als Werder nach über einer Stunde mit 5:0 in der Allianz Arena führte, steckte schon in diesem Spiel, war aber von diesen schimpfenden Meckerern nicht zu vorauszuahnen. Mein Nebenmann meinte: Wie soll das erst gegen Hoffenheim werden?

Fotohinweis:Detlev Claussen, geboren 1948 in Hamburg, lehrt Gesellschaftstheorie, Kultur- und Wissenschaftssoziologie an der Universität Hannover FOTO: UNI HANNOVER