Mutti hält 48 Prozent von Martin

Mit einem neu entwickelten Verfahren werden die Aktionäre einer Ich AG ermittelt

Ein Durchbruch begeistert derzeit den übersättigten Psychomarkt, Experten schwärmen von einem „wirklich neuen Weg im Verständnis der Persönlichkeit“. Das neue therapeutische Konzept: die „Ich AG“. Die Psychotherapeutin Elke Murtenschläger hat die innovative Analysemethode mitentwickelt, und seit sie die Ich AG in ihrer Praxis anbietet, kann sie sich vor Anfragen kaum retten. „Die IchAG ist ein Modell für das emotionale System, in dessen Mittelpunkt der Klient steht“, erklärt Murtenschläger. Ziel der Therapie ist es, nach und nach die Ich-Aktionäre zu ermitteln und so dem Klienten transparent zu machen, in welcher Weise die emotionalen Shareholder ihn zu dem gemacht haben, was er heute ist.

„Nehmen wir den Fall meines Klienten Martin A.“, erläutert die Therapeutin. „Er ist 42 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, Abteilungsleiter in einer Personalverwaltung. Wir haben in unseren bisherigen Gesprächen herausgefunden, dass seine Ich-Aktionäre seine Eltern, seine Ehefrau Irmgard, seine Kinder, sein Chef und zwei Exfreundinnen aus der Studienzeit sind.“

Den größten Teil von Martin A.s Ich-Aktien hält demnach seine Mutter Hilde A. mit rund 48 Prozent, während der Vater nur etwa sieben Prozent für sich beanspruchen kann. In den Therapiegesprächen hat sich gezeigt, dass der Einfluss des Vaters auf die Ich-Paketbildung von Herrn A. an einem halben Dutzend Fälle festzumachen ist: Bolzen auf dem Rasen mit sechs bis sieben Jahren, gemeinsames Angeln mit acht, abgebrochenes Aufklärungsgespräch mit zwölf, die erste gemeinsame Flasche Bier mit vierzehn, Prügelstrafe und Stubenarrest mit fünfzehn, weil Martin von der Polizei mit einem frisierten Mofa erwischt worden war. Und dazwischen hin und wieder die „Sportschau“. „Dieses geringe Engagement rechtfertigt für den Vater natürlich kein großes Ich-Aktienpaket“, macht die Therapeutin deutlich.

Hilde A. hingegen wird nicht müde, den Aktienanteil an ihrem Sohn durch häufige Besuche und tägliche Anrufe im Büro immer wieder aufs Neue zu konsolidieren, vor allem nachdem seinerzeit die feindliche Übernahme durch ihre Schwiegertochter drohte und der Kurs der Martin-Aktie dramatisch in die Höhe schoss. „Natürlich steigt der Wert der Ich-Aktien, wenn es neue Interessenten gibt“, weiß Murtenschläger. „Dann muss sich jeder mehr anstrengen, um seinen Anteil zu halten.“

Den Kurs der Martin-Aktie über die Jahre hat die Psychologin in einer Grafik dargestellt: „Einen Wertverlust gibt es logischerweise immer dann, wenn eine Krise oder Trennung angesagt ist“, erklärt Murtenschläger. Dann kann ein Erwerb von Ich-Aktien durchaus auch ein Risiko darstellen: Denn wenn man sich in solchen Situationen durch Hilfe oder Trost emotional für jemanden engagiert, also Ich-Aktionär wird, und sich die Person schließlich trotzdem umbringt, „dann“, so Murtenschläger, „ist das gleichbedeutend mit einem Börsencrash, bei dem man alles Investierte verliert.“ Für Martin A. und seine Shareholder stehen die Zeichen aber derzeit gut: „Die Investition in das Martin-Papier lohnt sich für seine Hauptaktionäre nach wie vor“, fasst die Therapeutin zusammen. „Zumindest bis sie erfahren, dass Herr A. seit kurzem eine Geliebte hat.“

TANJA KÜDDELSMANN