Erst mal den Kapitalismus lernen

Eine ständig wachsende Zahl von Nordkoreanern flieht – meist über China – nach Südkorea. Dort müssen sie sich erst mal mühsam zurechtfinden. Dabei ist die Jobsuche das größte Problem, denn nordkoreanische Qualifikationen sind nicht gefragt

AUS SEOUL GUNHILD STIERAND

Immer mehr Menschen fliehen vor Hunger und politischer Unterdrückung aus Nordkorea. Obwohl es nur ein kleiner Teil der bis zu 300.000 nach China geflüchteten Nordkoreaner schafft, nach Südkorea zu gelangen, wächst dort die Zahl nordkoreanischer Flüchtlinge. Noch 1999 kamen nur 148 Flüchtlinge aus dem Norden in den Süden. 2003 waren es von Januar bis November 1.117 – 10 Prozent mehr als 2002.

In Südkorea werden die Flüchtlinge bei ihrer Eingewöhnung von kirchlichen und zivilen Organisationen unterstützt, wie zum Beispiel der „Citizens’ Alliance for North Korean Human Rights“ (NKHR). Zunächst verbringen die Flüchtlinge einige Monate im „Hanawon“, einem staatlichen Eingliederungszentrum. Dort sollen sie das Leben im Kapitalismus üben. „Danach erhalten sie von der Regierung eine Sozialwohnung und ein Niederlassungsgeld von umgerechnet 33.000 Euro. Auch Schul- und Studiengebühren bezahlt die Regierung“, erklärt die NKHR-Vorsitzende Kim Young-ja.

Im ersten halben Jahr werden die Flüchtlinge zudem von der Polizei überwacht. „Unsere Regierung hat seit Anfang der 90er-Jahre einen Plan für den Fall eines plötzlichen Kollapses Nordkoreas. Der ist aber streng geheim“, berichtet Heo Man-ho, Politologe der Kyungpook National University Taegu.

Eines der größten Probleme der Flüchtlinge ist die Arbeitssuche. „Ihre Qualifikationen haben hier mit wenigen Ausnahmen keinen Nutzen“, sagt Kim von NKHR. Für einst hoch gestellte Nordkoreaner sei der Verlust des sozialen Status ein Problem. „Manche bereuen sogar, hergekommen zu sein.“

Nach einem einjährigen Berufsvorbereitungsprogramm bezahlt der Staat Arbeitgebern, die Nordkoreaner anstellen, zwei Jahre lang die Hälfte ihres Lohnes. Doch der Umgang mit Geld will gelernt sein: „Es kam vor, dass Flüchtlinge, die viel Geld auf einmal erhielten, es genauso schnell wieder ausgaben. Deshalb erhalten sie es inzwischen in Raten“, sagt Kim. Problematisch seit auch der Umgang mit Südkoreanern. „Manche werfen ihnen vor: Du bist wohl nur gekommen, weil du Hunger hattest. Oder: Wie konntest du nur deine Familie im Stich lassen?“

Yi Ki-chan, der auch bei NKHR arbeitet, kritisiert: „Viele Südkoreaner interessieren sich kaum für das Nordkorea-Problem. Die meisten wissen nicht, dass inzwischen so viele Flüchtlinge da sind.“ Noch bis vor etwa 15 Jahren wurden Nordkoreaner in Schulbüchern des Südens als rote gehörnte Teufel dargestellt. „Angst und Feindseligkeit“ sei immer noch das vorherrschende Gefühl gegenüber Nordkoreanern, meint die Lehrerin Yoo Hye-yon: „Ehrlich gesagt mache ich mir kaum Gedanken über die Situation in Nordkorea. Ich bin auch gegen eine schnelle Wiedervereinigung, denn dann würden noch mehr Flüchtlinge das Leben hier durcheinander bringen, ganz abgesehen von den hohen Kosten.“

Jo Jong-nae, Leiter eines Nachhilfeinstituts, ist optimistischer: „Eine drastische Erhöhung der Flüchtlingszahl würde kurzfristig Chaos auslösen. Die Entfremdung ist groß, daher wird es Zeit brauchen, sie zu überwinden. Aber wir gehören zum selben Volk, und wir Koreaner haben die Kraft, die Probleme zu lösen.“

Die 23-jährige Nordkoreanerin Park Sun-ja (Name geändert) kam vor drei Jahren über China in den Süden. Inzwischen macht sie eine Lehre als Friseuse und arbeitet als Freiwillige bei NKHR. Sie ist zufrieden mit dem Leben in Südkorea: „Was mir hier am besten gefällt, ist die Freiheit – und natürlich, dass es genug zu essen gibt.“ Die großen sozialen Unterschiede hätten ihr „nur einen Monat lang“ Probleme bereitet. Als „freundlich und warmherzig“ erlebe sie die meisten Südkoreaner: „Klar sind die Leute zunächst etwas erstaunt, wenn sie bemerken, dass ich aus Nordkorea komme. Aber nach kurzer Zeit gibt es kein Distanzgefühl mehr.“ Außerhalb von NKHR habe sie aber noch nicht viele Freunde, räumt sie ein.

Park kritisiert die Einstellung einiger Nordkoreaner: „Viele Flüchtlinge verlassen sich nur auf die Unterstützung durch die Regierung und geben sich wenig Mühe, sich in die Gesellschaft einzugliedern oder selbstständig zu werden.“ Ihre größte Sorge ist, dass Angehörige in Nordkorea für sie büßen müssen, sollte die dortige Regierung erfahren, dass sie in den Süden geflohen ist.