Merkel will immer nur kleine Schritte

Angela Merkel versteht die Verärgerung in der Türkei über ihre Position gegen eine EU-Mitgliedschaft nicht. Türkische Politiker sollten auch mal deutsche Befindlichkeiten zur Kenntnis nehmen. Mit ihrem Besuch wollte sie vielleicht Schröder zuvorkommen

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

„Ich wollte es einfach mal gesagt haben“, war das inoffizielle Motto des zweitägigen Türkeibesuchs von Oppositionsführerin und CDU-Chefin Angela Merkel. „Auch wenn ich die Leute hier damit vor den Kopf stoße, was mir natürlich leid tut, sage ich doch mit ehrlichem Herzen: Europa, die Europäische Union, vor allem Deutschland als Nettozahler, ist nicht mehr in der Lage, auch die Türkei noch zu verkraften“. Zwei Tage lang zog Angela Merkel mit dieser Botschaft durch Ankara und Istanbul und stieß dabei auf Reaktionen, die von Unverständnis bis zu echter Verärgerung reichten.

„Jahrzehntelang“, meinte ein Unternehmer im Anschluss an ihren Vortrag vor der deutsch-türkischen Handelskammer in Istanbul, „jahrzehntelang haben CDU-Regierungen uns erzählt, wenn ihr die Kriterien erfüllt, kommt ihr in die EU. Jetzt erfüllen wir die Kriterien, nun heißt es, das Boot ist voll, die EU kann euch leider nicht mehr mitnehmen.“ Was das mit Ehrlichkeit zu tun habe, fragt der Mann.

Es war nicht leicht für Merkel, darauf zu antworten, aber letztlich entschied sie sich für die Demontage ihrer Vorgänger. Die hätten es eben nie so genau nehmen müssen, weil Europa bis jetzt nie wirklich vor der Frage eines türkischen Beitritts gestanden habe. Jetzt werde es ernst und jetzt müsse sie ehrlich sagen: „Ich bin für kleine Schritte“.

Wie denn ihre kleinen Schritte konkret aussehen sollen, blieb dabei weitgehend hinter einem ausgedehnten Wortschwall über immer währende Freundschaft verborgen. Immer ein bisschen mehr von dem, was bereits existiert. Ein bisschen mehr Handel, ein bisschen mehr Kulturaustausch, ein bisschen mehr Technologieförderung. Lediglich an einem Punkt wurde sie konkret: Die CDU sei dafür, die Türkei viel stärker in die entstehende europäische Eingreiftruppe einzubinden, damit auch türkische Soldaten für die EU in den Krieg ziehen können.

Wie wenig sie über die konkreten Beziehungen zwischen Türkei und EU tatsächlich weiß, erläuterte sie selbst am Beispiel der Zollunion. Sie hätte gedacht, die Zollunion sei doch prima für die Türkei, doch erst jetzt habe sie erfahren, dass die Zollunion die Türkei verpflichtet, jedes Handelsabkommen, das die EU abschließt, mit zu vollziehen, ohne das sie selbst darüber habe mitentscheiden können. „Das geht natürlich bei einer privilegierten Partnerschaft nicht.“

Es war erstaunlich, aber die Oppositionsführerin hatte wirklich Schwierigkeiten zu verstehen, warum ihr Angebot einer „privilegierten Partnerschaft“ in der Türkei von jedem ihrer Gesprächspartner abgelehnt wurde. Die türkischen Politiker sollten sich doch auch mal die Mühe machen, die deutschen Befindlichkeiten zur Kenntnis zu nehmen, anstatt nur zu erwarten, dass wir auf die türkischen Ängste eingehen, forderte sie. Schließlich gebe es innerhalb der CDU, von der CSU gar nicht zu reden, etliche Mitglieder, die selbst ihren Vorschlag „für viel zu weitgehend halten“. Man solle also froh sein, dass sie sich für die Türkei engagiere.

Was Merkel wirklich in die Türkei geführt hat, blieb für ihre Gesprächspartner, aber auch für die meisten mitreisenden deutschen Journalisten ein Rätsel. Eine mögliche Antwort kam gestern aus Berlin. Just nachdem die CDU-Chefin sich gegenüber der Istanbuler Presse vergeblich abgemüht hatte, ihr Konzept zu erläutern, lief über die Nachrichtenagenturen die Meldung, Bundeskanzler Schröder werde bei seinem Türkeibesuch, der am kommenden Sonntag beginnt, ein ermutigendes Zeichen für Ankara setzen. Doch da eilte Frau Merkel bereits durch die Hagia Sophia, um das „beeindruckende christliche Erbe“ Konstantinopels zu bewundern.

Zum Abschluss ihrer Reise sagte Merkel gestern in Istanbul, ihr sei vorher bekannt gewesen, dass ihre Haltung von der türkischen Regierung kritisch gesehen werde. Ziel ihrer Gespräche sei gewesen, deutlich zu machen, dass dies keine Anti-Türkei-Position sei, und sie glaube, dies sei auch so verstanden worden.