Olympischer Dachschaden

AUS ATHEN NIELS KADRITZKE

Es geht auch ohne Dach, so lautet die jüngste Version der olympischen Idee. Sechs Monate vor Beginn der Sommerspiele am 13. August hat das Organisationskomitee Athen 2004 (Athoc) angesichts des immer noch unvollendeten Bauprogramms die Parole ausgegeben: Wenn etwas nicht fertig wird, lässt man es eben weg – Hauptsache, der Sport kann stattfinden.

Das erste Dach, das dem Pragmatismus zum Opfer fällt, sollte sich über das Schwimmstadion spannen. Evangelos Venizelos, als Kulturminister für die Olympiavorbereitungen zuständig, gab Anfang der Woche zu: Das Unternehmen, das den Bau errichtet hat, ist „außerstande, die schwierigen technischen Anforderungen des Projekts zu bewältigen“. Doch man werde eine alternative Lösung finden. Die könnte darin bestehen, dass es keine Überdachung gibt.

Die Dachkrise ist die jünste Episode in dem jahrelangen Termingezerre zwischen dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) und dem Athoc. Bislang konnte man sich stets auf Kommuniqués einigen, doch nun ist die Krise zu Protokoll gegeben. Gilbert Felli, Generaldirektor des IOC-Koordinationsausschusses für Athen 2004, beschwerte sich brieflich über die griechischen Tricksereien: Noch im November 2003 habe man versichert, die Arbeiten seien angelaufen. Drei Monate später heißt es, dass es nicht mal einen kompetenten Bauträger gibt.

Der Streit hat allerdings einen Aspekt, der keineswegs „typisch griechisch“ ist. Der Internationale Schwimmsportverband (Fina) hatte erst im Sommer 2003 eine Überdachung gefordert, um die Licht-Schatten-Kontraste zu dämpfen, die der Qualität der Fernsehbilder abträglich sind. Die Athener sagten einfach Ja. Dann merkten sie, dass das Dach teuer wird, und legten es zu den Akten, ohne Fina und IOC zu unterrichten.

Wenn die Griechen heute geltend machen, das Dach gehöre nicht zu ihren Verpflichtungen, schwingt leichte Empörung über solche verspäteten Zumutungen mit: Ursprünglich hatte man ja ohnehin „Olympia light“ propagiert, um die „Gigantonomie“ der Spiele an deren Geburtstätte auf „menschliche Maße“ zurückzuführen. Doch der Sport im Medienzeitalter hat eigene Gesetze. Die kannten auch die Griechen, als sie sich 1997 für Olympia 2004 bewarben. Der neuerdings bemühte Hinweis, seit Helsinki 1952 habe noch nie ein so kleines Land die Spiele organisiert, kommt sieben Jahre zu spät. Heute ist man in der Pflicht, an die das IOC beharrlich erinnert. Das nächste Mal ist es kommende Woche wieder so weit, wenn erneut die Kontrolleure aus Lausanne anreisen.

Schon in seinem Athen-Report vom Oktober 2003 hat das IOC gewarnt: Da die Bauarbeiten immer noch das Hauptproblem darstellten, sei die wichtigste Frage, wie man die restlichen Aufgaben koordiniert: „Von jetzt an bis zur Eröffnungsfeier der 18. Olympiade in Athen am 13. August 2004 zählt jede Sekunde.“

Das weiß man auch bei Athoc. Vor drei Tagen wurde der Manager des Bauprogramms gefragt, was ihm am meisten Kopfzerbrechen bereite. Seine Antwort: das Unvorhergesehene. Und das gibt es immer wieder, wie den Blizzard, der Athen jetzt heimgesucht hat. Noch letzte Woche lag das zentrale Olympiagelände im Ortsteil Maroussi unter einer dichten Schneedecke, alle Arbeiten waren Tage lang eingefroren. Das ganze Areal mit dem Leichtathletikstadion und wichtigen Anlagen wie Schwimmstadion und Velodrom ist sechs Monate vor der Eröffnungsfeier eine chaotische Großbaustelle, die langsam im Schlamm versinkt.

Die Hauptursache für dieses Chaos ist auch ein Dach. Die Konstruktion des spanischen Architekten Santiago Calatrava soll das große Stadion überwölben und zum architektonischen Blickfang der Athener Spiele werden. Laut Athoc sind die Arbeiten an der Überdachung zu 72 Prozent fertig. Doch alle Experten wissen, dass der Rest am schwierigsten ist. Die Dachkonstruktion, die an zwei gigantischen Doppelbögen aus Stahl aufgehängt wird, ist technologisches Neuland nicht nur für die beteiligten Firmen. Bis Ende Mai sollte das Dach eingehängt sein, jetzt ist von Ende Juni die Rede. Das aber würde den vom IOC befürchteten Koordinations-Gau bedeuten. Bis das Dach vollendet ist, sind alle anderen Arbeiten auf dem Gelände stark behindert. Im Stadion selbst könnten technische Feinheiten wie Sicherheitssysteme und Installationen für die TV-Übertragung nicht vollendet und erprobt werden.

In Athen gehen bereits Gerüchte um: Die Regierung werde nach den Wahlen vom 7. März verkünden, dass die Arbeit am Calatrava-Dach eingestellt wird, um die Spiele nicht zu gefährden. Dennis Oswald, Chef des IOC-Koordinationsausschusses, ist auf den Ernstfall schon vorbereitet: Zur Not, sagte er in der Züricher Sonntags-Zeitung, könne die Leichtathletik auch unbedacht stattfinden. Das könnte sie, aber für Athen wäre es die Blamage, die fast alle Griechen fürchten. Und da die Trägerbögen nicht mehr abzurüsten sind, würden sie ein Mahnmal abgeben, das für die Kluft zwischen Wollen und Können steht.

Die Ungewissheit um das Calatrava-Dach ist nur das letzte Kapitel einer langen Geschichte. Zwar sind die meisten Sportstätten entweder fertig oder kurz vor der Übergabe (siehe Kasten), doch da fast alle Bauten im Verzug waren, war ein wichtiges Prinzip nicht einzuhalten. In allen Disziplinen sollten spätestens ein Jahr vor den Olympischen Spielen so genannte Test-Events stattfinden. Dazu ist es nie gekommen, mit Ausnahme der Ruderregatta, die im August 2003 in einem Fiasko endete: Der seit der Antike bekannte Nordwind, der im Sommer Windstärke 7 erreichen kann, ließ mehrere Boote kentern. Seither weiß man, was man vorher hätte wissen müssen: Die Regattastrecke läge besser nicht am Meer.

Die meisten Testwettbewerbe werden also erst in den kommenden Monaten stattfinden. Damit schrumpft die Zeit, funktionelle Mängel abzustellen. Zwei fatale Folgen dieses Verzugs sind jedoch nicht mehr zu korrigieren. Erstens wird es in Athen nicht die „grünen Spiele“ geben, die einmal großspurig angekündigt waren. Und zweitens wird es für alle ziemlich teuer.

Der erste Mangel ist auf dem zentralen Olympiagelände zu besichtigen. Auf der Großbaustelle stehen einsam etwa zwanzig junge Pappeln. Die restliche Begrünung kann erst nach Abschluss der Dacharbeiten beginnen; doch von den geplanten 17.000 Bäumen und Büschen wurden schon 8.000 abbestellt. Das Grünkonzept ist zur Farce geworden. Man hätte es seit 1997 entwickeln können. Doch der Ausschuss, der olympiageeignete Pflanzensorten ermitteln sollte, trat erst im Frühjahr 2003 zusammen. Das Ergebnis werden die Olympiagäste im August zur Kenntnis nehmen, falls sie sich nicht durch frisch getopfte Palmen täuschen lassen.

Der zweite Effekt der Verzögerungen schlägt sich in den Kosten nieder. Das Rennen gegen Zeitvorgaben garantiert jeder Baufirma eine Goldmedaille, vorausgesetzt, sie hält bis zum Ende durch. Und wenn ein Unternehmen aufgibt, wie kürzlich bei den Ausbauarbeiten für die Marathonstrecke, kann der neue Auftragnehmer noch fettere Preise erpressen. Im Zweifel zahlt der Staat, der für „Athen 2004“ laufend neue Schulden macht. Der öffentliche Zuschuss war 2001 auf 1,6 Milliarden Euro angesetzt; Anfang 2004 liegt er bei 4,4 Milliarden.

Den Griechen verkünden diese Zahlen künftige Steuerlasten – und das für so unbeliebte Dinge wie die Sicherheitsmaßnahmen, die über 600 Millonen Euro kosten. In den Straßen der Stadt werden sie von 2.000 Videokameras überwacht, und wer einen olympischen Wettbewerb sehen will, muss an Röntgenschleusen, Metalldetektoren und Schnüffelhunden vorbei. Mit 50.000 Männern und Frauen wird das Sicherheitspersonal dreimal so stark sein wie in Sydney 2000.

Viele Athener fürchten, dass unter solchen Bedingungen eine olympische Euphorie wie in Sydney vor vier Jahren gar nicht erst entstehen kann. Dabei sehen sie durchaus ein, dass Olympische Spiele heute ein Risiko bedeuten. Laut Umfragen fürchten 52 Prozent ein Attentat. Deshalb würden viele am liebsten die Stadt ganz verlassen. Doch die Flucht wird im August 2004 noch schwerer zu organisieren sein als in den Jahren zuvor. Überall in Griechenland setzen die Hotels auf ausländische Touristen, die eine Woche Olympia mit zwei Wochen Urlaub verbinden. In der Vorfreude auf diese Kunden sind die Hotelpreise in den beliebtesten Ferienorten um 50 bis 100 Prozent gestiegen. Solch hohe Ausgaben können sich aber viele Familien nicht leisten. Aber auch wenn sie zu Hause bleiben, werden sie von der olympischen Teuerung nicht verschont bleiben. Schon im vorolympischen Jahr ist Athen in der Weltliga der teuersten Städte um 30 Plätze nach oben geklettert.

Und dennoch werden sich die Athener mit „ihrer“ Olympiade arrangieren. Nach all den Schwierigkeiten werden sie schon zufrieden sein, wenn es ohne rezili abgeht – ohne Blamage, die gegenüber „dem Ausland“ besonders wehtut. Viele werden sich auch noch mit Schrecken daran erinnern, dass sie die Olympischen Sommerspiele gern schon 1996 gehabt hätten. Das aber wäre wahrhaftig ein rezili geworden, denn damals war die Stadt in keiner Wiese auf so ein Ereignis vorbereitet. Schon dieser Gedanke könnte die Einwohner mit Athen 2004 versöhnen. Und sollten einige griechische Athleten auch noch dopingfrei zu Medaillen kommen, könnte sogar ein bisschen Euphorie ausbrechen. Denn bezahlt wird später.