Sexy, aber pleite

Das Mautdebakel ist teuer – und hält die Benachteiligung der Schiene gegenüber der Straße im Güterverkehr aufrecht. Doch das Schwächeln der Bahn hat tiefere Ursachen

Der Schienengüterverkehr der alten Bundesbahn ist für die meisten Kunden ein rotes Tuch

Manfred Stolpe lässt demnächst Arbeitslose auf Autobahnbrücken Lkw-Kennzeichen notieren, lästerte kürzlich ein Mainzer Karnevalist: statt Toll Collect ein ABM-Projekt. Die ernste Seite daran ist, dass Deutschland früher als erwartet zur Straßenkreuzung Europas wird, weil der Lkw erst verspätet verursachungsgerecht zur Kasse gebeten wird. Bei Aktivierung der alten Lkw-Steuer greift ein miserabler Anreiz: Einmalig als Fixum an den Fiskus entrichtet, zahlt ein Lkw mit 60.000 km Fahrleistung pro Jahr doppelt so viel für Verschleiß und Kapazitätsverbrauch der Straßen wie ein gleicher Lkw mit 120.000 km Fahrleistung.

Die Güterverkehrsbranche der Bahn befürchtet Nachteile im Kostenwettbewerb, solange Toll Collect oder ein neues System nicht funktionstüchtig sind. Die Bahnbranche insgesamt lamentiert, Hans Eichel werde auf fehlende Mauteinnahmen mit der Kürzung von Investitionen in das Schienennetz antworten. Nun wird nach Geldquellen gesucht. Die Bahn soll Kapital aufnehmen und damit unverzinsliche Darlehen des Bundes für Netzinvestitionen vorzeitig zurückzahlen. Der Bund verwendet die Rückzahlung der Bahn für den Verkehrshaushalt. Ziel des kreativen Deals: Aus Finanzlücken von heute werden Finanzlasten von morgen, ohne die Maastricht-Kriterien zu strapazieren. Doch das Schwächeln der Güterbahn hat noch viel tiefere Ursachen als die Maut. Ihr größter Feind ist nach wie vor die Schienenverkehrspolitik.

Die größten und damit teuersten Projekte im Netzausbau kamen bislang fast ausschließlich dem schnellen ICE-Verkehr zugute. Betriebswirtschaftlich gerieten sie immer zum Flop. Dazu gehört die Neubaustrecke Frankfurt–Köln, die um 75 Prozent teurer geworden ist als geplant, und auf der nur halb so viele Personen befördert werden wie prognostiziert. Die Hälfte des gesamten Personenfernverkehrs müsste über diese Strecke laufen, um sie rentabel zu machen, so ein Gutachten der Bundesregierung aus dem Jahr 2002. Oder die Neubaustrecke Nürnberg–Ingolstadt–München, die von vielen Führungskräften der DB bereits als Unfug kritisiert wurde, ehe sie begonnen wurde. Weiterer Unfug steht bevor, etwa die geplante ICE-Neubaustrecke Hannover–Bremen/Hamburg oder die bereits begonnene ICE-Neubaustrecke Nürnberg–Erfurt. Ironischerweise werden fast alle Projekte damit begründet, dass sie mehr Kapazität für den Güterverkehr auf den bestehenden Strecken schaffen.

Dabei ist die Bahn fixiert auf den Hochgeschwindigkeitsverkehr – und vernachlässigt den Güterverkehr. Freie Fahrt hat der nur nachts, aber die Nacht ohne Personenverkehrstakte ist nur fünf bis sechs Stunden lang. Ein Güterzug quer durch Europa wäre tagelang unterwegs, wenn er jeweils nur die zeitlichen Nachtfenster der durchquerten Nationen nutzen dürfte. Tagsüber haben der vertaktete ICE/IC- und Regionalverkehr Vorrang. Eine Güterverkehrstrasse kann nur aus Lücken zusammengestückelt werden, die die Personenzüge frei lassen. Die Durchlasskapazität ist dürftig, die Transportzeiten jenseits von gut und böse. Die Bahntochter DB Netz krönt die Misere und baut aus zu kurz greifenden Kostenerwägungen Weichen für Überholungen ab. Die Folge sind Kapazitätsabsenkungen – natürlich zu Lasten der Güterzüge. Der Bundesverkehrsminister macht sich lächerlich, wenn er im Bundesverkehrswegeplan bis 2015 eine Verdopplung des Schienengüterverkehrs prognostiziert.

Repräsentiert wird die Branche Schienengüterverkehr zehn Jahre nach der Bahnreform immer noch zu rund 95 Prozent durch DB Cargo (neuerdings: Railion). In dieser Zeit hat sich der Lkw-Verkehr drastisch verteuert. 7 Cent Mineralölsteuererhöhung zur Finanzierung der Bahnreform, höhere Rohölpreise am Weltmarkt, Ökosteuer und die (bislang) unmittelbar bevorstehende Lkw-Maut hätten längst zu einem Run auf die Bahn führen müssen – verstärkt dadurch, dass durch Staus die Transportzeiten immer weniger kalkulierbar werden. Der Run hat eingesetzt, aber nur bei Newcomern auf der Schiene. Deren Marktanteil ist aber noch so gering, dass der Verlagerungseffekt von der Straße auf die Schiene bislang kaum messbar ist. Güter werden aber nur dann auf Schienen transportiert, wenn ein Eisenbahnunternehmer auf die Bedürfnisse der Kunden eingeht. Der Schienengüterverkehr der alten Bundesbahn sei für die meisten Kunden aber ein rotes Tuch, stellte schon die Regierungskommission Bahn 1991 fest. Auch DB Cargo hat die Wende nicht geschafft. Rechnet man die Zukäufe von Railion Benelux und Railion Denmark aus der Statistik heraus, hat es seit der Bahnreform keine Steigerung der Verkehrsleistung gegeben – in einem ansonsten stark wachsenden Gesamtmarkt. Hoffnung setzt die DB auf den Zukauf der Stinnes AG mit der Logistiktochter Schenker. Deren Marktkompetenz soll DB Cargo Kunden zutreiben. Der Schuss kann aber nach hinten losgehen: Die Logistikbranche in Europa ist hoch diversifiziert. Schenker ist mit nur 3 Prozent Marktanteil größter Player. Das Problem: 97 Prozent der Branche könnten DB Cargo meiden, weil der Marktführer Stinnes/Schenker genaue Kenntnis über die Kundenbeziehungen seiner konkurrierenden Logistikunternehmen erhalten kann, sofern diese DB Cargo in Anspruch nehmen.

Die Bahn führt als Grund für ihre mangelnde Wettbewerbsfähigkeit im Güterverkehr die Grenzen Europas an. Gemeint sind unterschiedliche Strom-, aber auch Steuerungs- und Sicherheitssysteme, die einem Lokführer Mehrsprachigkeit abverlangen. Die Bahn setzt auf komplex ausgerüstete Lokomotiven, die allen europäischen Gegebenheiten genügen, und mehrsprachige Lokführer mit europaweiter Streckenkunde. Dann erst würde europäischer Schienenverkehr so unkompliziert wie europäischer Lkw-Verkehr sein. Klingt logisch, ist aber extrem teuer, bezahlbar nur von nationalen Transporteuren, sofern es ihnen gelingt, ihre staatlichen Eigner zur Kasse zu bitten. Aber diese Ära geht zu Ende. Warten auf Geld wird vergeblich sein, in der Zwischenzeit besetzt der Lkw den Markt. Gefragt ist Wettbewerb auf geöffneten Netzen. Dann würden mehr private Schienentransporteure einsteigen. Einer würde sich zum Beispiel auf die Strecke Frankreich–Deutschland spezialisieren und an der Grenze organisieren, dass ein deutscher Güterzug aus Sachsen an der französischen Grenze just in time eine französische Lok mit französischem Lokführer vorfindet. Grenzaufenthalt mit vorgeschriebener Bremsprobe: 15 Minuten.

Die größten und teuersten Projekte im Netzausbau kamen fast nur dem schnellen ICE-Verkehr zugute

Der ICE-Verkehr ist „sexy“ – tatsächlich ist er pleite. Kaschiert wird das nur durch massive Quersubventionen. Der Nahverkehr auf der Schiene wird immer attraktiver, ist aber teuer. Die Tickets decken derzeit nur ein Drittel der Kosten. Die Güterbahn hat – in europäischen Dimensionen gesehen – die größten strategischen Vorteile gegenüber dem Hauptkonkurrenten Lkw. Sie nutzbar zu machen, erfordert weniger Geld als vielmehr neues Denken. Das ist zwar nicht „sexy“, aber wirtschaftlich.

GOTTFRIED ILGMANN