Der Wind kommt meist von hinten

Dorpat, Reval … Namen, die nach Vorkriegszeit klingen: Dorpat heißt nun Tartu und ist die Wiege der estnischen Unabhängigkeit. Aus Reval wurde Tallinn, die nordische Hafenstadt in hanseatischem Puppenstubenformat. Eine nicht immer beschauliche Radtour durch das Baltikum

Zwei Wochen im Sattel und auf 1.000 Kilometer Strecke zwei richtige Grenzen

von DANIELA WEINGÄRTNER

Wer Radlerneuland sucht für seine Sommertour, flach dazu und halbwegs wettersicher, der landet früher oder später mit dem Finger auf der Landkarte nördlich von Polen. Memel, Dorpat, Reval … Namen, die nach Vorkriegszeit klingen, nach Flüchtlingstrecks und verbotenen Strophen der deutschen Nationalhymne, aber auch nach Hanse, nach deutschbaltischen Gütern mit Ländereien so weit das Auge reicht. Im Lauf der Reise wird sich der Klang in Bilder verwandeln, und neue Namen werden sich über die alten legen: Dorpat wird nun Tartu heißen, eine lebendige kleine Universitätsstadt, Wiege der estnischen Unabhängigkeit. Aus Reval wird Tallinn, die nordische Hafenstadt mit dem hanseatischen Zentrum im Puppenstubenformat. Natürlich ist das auch nicht Memel, wo die Fähre von Kiel nach 25 Stunden anlegt. So nennen es die weiß ondulierten Damen in der Schiffsbar aus alter Gewohnheit, die mit dem singendem Tonfall: „Weißte noch, Lottchen, wie wir von Memel mit dem Rad rüber sind im Sommer, auf de Kurische Nehrung. An klaren Tagen konntste bis Königsberg gucken …“

Kilometerlange schrottreife Hafenanlagen, Plattenbauten, Kohle- und Kohlgeruch – so begrüßt die litauische Küstenstadt Klaipeda ihre Heimwehtouristen. Das Ännchen von Tharau, auf dem Theaterplatz in Bronze gegossen, bringt die gute alte Zeit auch nicht wieder. Doch es ist ein praktischer Treffpunkt für die alten Frauen, die für ein paar Litas Stickereien an die reichen Touristen verkaufen wollen. Nach dem Wiederanschluss ans Deutsche Reich 1939 musste das Ännchen einer Hitlerbüste weichen. Im kollektiven Gedächtnis Litauens ist von diesem Zwischenspiel nicht viel haften geblieben. Im Januar 1945 marschierte die Rote Armee ein. Kein Wunder, dass man sich hier fühlt, als wäre man mit der Zeitmaschine in die DDR gefahren.

Der Ostschock setzt aber schon früher ein: In dem Augenblick, wo die kleine Gruppe schwer bepackter RadlerInnen ihre Drahtesel in Kiel über die rostige Schiffsrampe der „MV KAUNAS“ schiebt. Die uniformierte Xanthippe an der Rezeption, die im Voucher den Stempel der Hafenbehörde vermisst, haben wir alle schon mal getroffen: Mit ihrem bedrohlichen Busen, ihren Uniformstreifen und blickdichten Strumpfhosen saß sie bis zum Zusammenbruch der DDR in jeder Vopo-Meldestelle. Abends in der Kapitänsbar schwenken slawische Gigolos die weiß ondulierten Damen übers Parkett. Die kramen ein paar Brocken Russisch hervor, doch man versteht sich auch ohne Worte. Am nächsten Tag werden die Tänzer wieder am Steuer ihrer Bullis sitzen, mit denen das ganze Unterdeck vollgeparkt ist. Geladen haben sie Schrottautos aus Westeuropa, nur die teuersten Marken. Im Sattel wird man später an diese Transporter zurückdenken und sich vornehmen, mögliche Nachahmer zu warnen: Wenn ihr im Baltikum radeln wollt, tut es bald. Die Straßen werden täglich voller.

Der einzige existierende baltische Radreiseführer „Velo Via Baltica“ von 1999 schwärmt: „Asphaltierte Nebenstraßen sind das Paradies für Radfahrer. Begegnungen mit Autos gibt es höchstens im Minutenabstand; man kann den Blick frei schweifen lassen …“ Das mag vor drei Jahren noch so gewesen sein. Inzwischen gewinnt ein anderes Zitat ungeahnte Brisanz: „Ein verhältnismäßig hoher Anteil der Autofahrer verfügt noch nicht über ausreichende Fahrpraxis. Offensichtlich ist es unüblich, bei Gegenverkehr abzubremsen, bis das Überholen gefahrlos möglich ist. In Gegenrichtung überholende Fahrzeuge missachten manchmal die ihnen entgegenkommenden Radler.“

Dem ist nichts hinzuzufügen. Den Reisenden erwarten allerdings auch angenehme Überraschungen. Plini mit Sauerrahm und selbst gemachter Marmelade zum Frühstück, zum Beispiel. Oder Wachteleier mit rotem Kaviar zum Abendbrot. Für die Einheimischen ist es unerschwinglich, in Touristenrestaurants zu essen. Für Gäste aus Euroland dagegen liegen die Preise weit unter dem, was sie gewöhnt sind.

Auch der baltische Blick auf die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts ist für deutsche Besucher unerwartet leichte Kost. Hitlers Schreckensherrschaft ist aus hiesiger Perspektive lediglich eine Randnotiz wert. Immerhin wird im „Okkupationsmuseum“ im Zentrum von Riga erwähnt, dass die wenigen überlebenden Juden in Lettland 1944 die Soldaten der Roten Armee als ihre Retter begrüßten. Für die meisten Balten aber ist 1944 das schwarze Jahr, in dem Stalins Schergen zurückkehrten. Nicht das deutsche Wort „Konzentrationslager“ hat sich als Synonym des Schreckens ins kollektive Bewusstsein gegraben, sondern das russische Wort „Gulag“.

Zwei Wochen im Sattel, auf 1.000 Kilometer Strecke zwei richtige Grenzen inklusive Passkontrolle und vielen Stempeln – das sind für Radler die Dimensionen, in denen das schöne Gefühl entsteht, wirklich „auf Tour“ zu sein. Wenn man es geschickt anstellt und im Süden an der litauischen Küste beginnt, fühlt man sich sogar sanft vorwärts geschoben, denn der Wind kommt meist von hinten. Nach Norden zu wird der Verkehr dünner. „Die Zeit scheint stehen geblieben“, steht im Reiseführer, und das gilt sicher für Thomas Manns Sommervilla auf der Kurischen Nehrung oder für Jurmala, das Ostseebad der Jahrhundertwende vor den Toren Rigas.

Ein Bummel über den Markt von Riga holt einen schnell in die Gegenwart zurück. Dort liegt das gleiche Angebot aus wie in jedem mitteleuropäischen Supermarkt, doch die Preise sind selbst für Euroverdiener astronomisch. In der mit viel Gold und Stuck restaurierten Altstadt kostet ein Teller Ravioli beim Edelitaliener zehn Lat, das sind umgerechnet 18 Euro.

Wer sich aufs Baltikum einlässt, darf nicht auf Reisebegegnungen am Wegesrand hoffen. Die Menschen im Norden sind ohnehin verschlossener als in den wärmeren Zonen Europas. Doch hier haben fünfzig Jahre sowjetische Okkupation und Verfolgung außerdem die Erfahrung gelehrt, dass es sicherer ist, nichts zu sehen und nichts zu wissen. Nach der Unabhängigkeit hat der Kapitalismusschock viele zusätzlich verbittert.

Im Gedächtnis haften bleibt der Typ magere Kindfrau, lächerlich hohe Absätze auf löcherigen Straßen, zu viel Schminke und Hunger nach Leben im Gesicht – und ein eigenes Kind im Schlepptau. Dem männlichen Pendant ist sein Erscheinungsbild egal. Als einziges Accessoire baumelt die Wodkaflasche vom Handgelenk, und der Schritt ist schon um Mittag nicht mehr ganz zielgerichtet.

Wenn man eine weitere Grenze überquert und nach Estland hineinradelt, kann man die engen Bindungen zu Finnland, das sprachlich und geografisch um die Ecke liegt, in Architektur und Lebensart des nördlichsten baltischen Staates sehen. Die Hafenstadt Tallinn ist mit dem Katamaran von Helsinki aus in 90 Minuten zu erreichen. Die Tour ist bei Finnen überaus beliebt, weil der Wodka viel billiger ist als zu Hause.

Wenn also in Tallinn ein Mann unsicher über die Straße schwankt, dann ist es im Zweifel kein baltischer Saufkopf, sondern ein finnischer.