Die Welt hinter Klütz

Deutschland eine Lesereise: Andrzej Stasiuk reist im ICE von Lesung zu Lesung und schreibt über das Reisen als Lebensform. „Dojczland“ heißt der so entstandene Band

VON JÖRG MAGENAU

Dojczland ist ein seltsames Land. Es zu bereisen gleicht einer fortgesetzten Psychoanalyse. Für Spargelzuchtspezialisten wie für Schriftsteller ist es gleichermaßen traumatisierend und in nüchternem Zustand keinesfalls auszuhalten. Der polnische Autor Andrzej Stasiuk wappnet sich deshalb jederzeit mit einer Flasche Jim Beam, ohne die er die Stunden in all den Hotelzimmern so wenig überstehen würde wie die Wartezeiten auf den Bahnhöfen und Flughäfen und die Leseabende in erwartungsfrohen Provinzbibliotheken. Schriftsteller auf Lesereise haben ja ein ähnliches Problem wie Soldaten im Krieg. Meistens passiert gar nichts, und es geht nur darum, die leere Zeit und den Raum dazwischen zu überbrücken, um beim nächsten Gefecht pünktlich und konzentriert an Ort und Stelle zu sein.

„Man muss in Krefeld, in Hagen und in Duisburg gewesen sein, damit einem der Bahnhof in Stuttgart Linderung verschafft“, notiert Stasiuk. Dieser lindernde Effekt stellt sich jedoch nur deshalb ein, weil der Stuttgarter Bahnhof ihn an den Bukarester Gara de Nord erinnert. Der Westen ist für ihn immer dann am erträglichsten, wenn er die Anwesenheit des Ostens erlaubt. Aus Deutschland wird Dojczland, und so steigt Stasiuk mit „Herbst im Herzen“ in die „silberne Zigarre des ICE“ und summt, während er durch das Berliner Olympiastadion spaziert, „eine Zigeunermelodie aus Siebenbürgen vor sich hin“. Als so eine Art Zigeuner sieht er sich selbst, „nur ein bisschen besser gekleidet und mit sauberen Fingernägeln“.

Andrzej Stasiuk ist hierzulande mit seinen Reisereportagen berühmt geworden, in denen es nicht nur um abgeschiedene Gegenden geht, sondern immer auch um das Reisen selbst als eine besondere Daseinsform. Von dem südpolnischen Wołowiec aus, wo er lebt und zusammen mit seiner Frau einen eigenen Verlag gegründet hat, erkundete er die „Welt hinter Dukla“ und die Regionen im südöstlichen Europa. In „Unterwegs nach Babadag“ etwa beschrieb er eine untergehende Welt, wie es sie bald nicht mehr geben wird, weil der Osten als ein besonderer Aggregatzustand der Existenz sich mehr und mehr verflüchtigt. Er beschrieb Dörfer mit abweisenden Hoftoren, Kuhherden, die dampfend in der Landschaft stehen, und Schafe, die in einer Industriebrache weiden: „Diese scheinbar fragilen, weichen und wehrlosen Wesen waren alt wie die Welt und trugen einen ruhigen Sieg davon.“

Da ist es auf den ersten Blick erstaunlich, dass Stasiuk nun im silbernen ICE durch Deutschland rast. In 117 Städten ist er laut eigenem Bekunden gewesen. 220-mal eilte er am frühem Morgen zum Bahnhof und empfiehlt diese Stunde sehr, in der die Städte zum Leben erwachen. Ob in Crailsheim oder am Stuttgarter Platz in Berlin – Stasiuk entdeckt dann das geradezu rührende Bemühen der Menschen, ihrem Leben eine Form zu verleihen, Ordnung ins Chaos zu bringen und „den Aberwitz menschlicher Existenz zu zügeln“. Ordentlich ausgerichtete Salzstreuer auf den Tischchen der Cafés können den empfindsamen Passanten in diesem Zusammenhang zu Tränen rühren.

Seit rund zehn Jahren reist Stasiuk immer wieder durch Deutschland. Zeit und Raum lösen sich in diesem endlosen Hin und Her auf. Deutschland ist für ihn „Leben unterwegs und niemals länger als zwei Tage an einem Ort“: eine permanente Lesereise. Tatsächlich ist ja das Lesen vor Publikum inklusive der Erfindung der Literaturhäuser eine zutiefst deutsche Errungenschaft. Es liegt deshalb nahe, das Land aus dieser Perspektive zu beschreiben. Stasiuk erlebt die Deutschen bevorzugt als Trinker an Bahnhöfen und als Zuhörer auf seinen Lesungen. Deutscheres ist schwer zu finden: „Ihr Zuhören hatte etwas Unnachgiebiges, etwas Endgültiges. Damit war nicht zu spaßen. Hier hatte Luther die Bibel übersetzt. In Deutschland hatte das Wort Gewicht. Vielleicht hatte dieser Ernst sogar auf mich abgefärbt?“

Aber nein: Stasiuk bleibt der humorbegabte Melancholiker, der im Hotelzimmer weint und Whisky trinkt. Auf dem Frankfurter Bahnhof betrachtet er eine Modelleisenbahn, die durch schnuckelige Landschaft fährt, und stellt sich vor, er selbst würde als Mini-Figur dort auf dem Mini-Bahnhof stehen und in Mini-Literaturhäusern vor einem Mini-Publikum lesen. Wie absurd die Lesereise als Lebensweise ist, macht er deutlich, indem er sich ausmalt, wie so etwas in Russland verliefe. Dann wäre er über Perm, Jekaterinburg und Krasnojarsk bis nach Ulan-Ude, Tschita und bis Ussurijsk unterwegs. Also doch lieber von Boltenhagen nach Klütz, eine Strecke, die er in einem VW-Transporter und mit einem Fahrer zurücklegte, der eine blutige Schürze trug, als käme er gerade aus dem Schlachthaus, und der pausenlos rauchte und redete.

Das ist in Stasiuks gesammelten Dojczland-Erinnerungen einer der glücklichsten Momente. Auch die Raucher, die direkt unter Rauchverbots-Schildern stehen, beglücken ihn, der mit dem Rauchen vor Jahren aufgehört hat. Das Glück, das er findet, besteht nicht zuletzt darin, dass die eigenen Stereotype über die Deutschen nicht immer haltbar sind. Die Reise ist eben doch mehr als nur Psychoanalyse und Trauma-Erneuerung. Sie ist, wie Stasiuk einmal notiert, „nichts anderes als die Wanderung des Hans im Glück auf der Suche nach Weisheit“. Das gilt vermutlich für all seine Reisen. Wir können froh sein, dass Deutschland – oder vielmehr Dojczland – nun auch zu Stasiuks literarischer Topografie Europas gehört.

Andrzej Stasiuk: „Dojczland“. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Edition Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008, 94 Seiten, 9 Euro