Eine Insel im Häusermeer

AUS LONDON RALF SOTSCHECK

Es ist kalt im Haus. Auf den Fensterscheiben hat sich Kondenswasser gesammelt, unter der Eingangstür pfeift der Wind durch. Jim Blackenden fühlt sich dennoch wohl. Der 55-jährige kleine Mann mit den langen blonden Haaren lebt seit 20 Jahren mit seiner Frau Lorraine in dem Haus. Er hat es grün angestrichen, an den Dachrinnen und in den Fenstern blinkt Weihnachtsbeleuchtung, auf dem Dach steht der mit kleinen Lämpchen bestückte Schlitten des Weihnachtsmanns neben einer Gruppe Gartenzwerge. Über dem Haus weht die englische Fahne, das Sankt-Georgs-Kreuz. Auf weißen Grund stehen die Worte: „Say No.“

Sagt nein, wozu? „Die Stadtverwaltung will unsere Siedlung abreißen und neue Häuser bauen“, sagt Blackenden. „Aber wir sind dagegen.“ Die Siedlung heißt „Excalibur“, benannt nach dem Schwert von König Artus, das dem Träger übermenschliche Kräfte verleiht. Die Bewohner hatten bei Baubeginn einen Wettbewerb um den originellsten Namen ausgeschrieben. Auch die Straßennamen gehen auf die Artus-Sage zurück: Mordred Road, Baudwin Road.

Jim Blackenden wohnt in der Pelinore Road. Zwischen den flachen Fertigbauhäusern verlaufen schmale Fußwege, die die Querstraßen verbinden. Von den 187 Häusern in Lewisham gehören 156 dem Stadtrat, der 50 Pfund Miete pro Woche kassiert. Die übrigen 31 Häuser sind Eigentum der Bewohner. „Sie sind inzwischen 150.000 Pfund wert“, sagt Blackenden, „aber freiwillig geht hier niemand weg.“

Die meisten Häuser sind weiß, manche rosa oder braun angestrichen, eines ist sogar in einer Art Tudorstil hergerichtet. Am Rande der Siedlung steht die Kirche St. Mark’s, ebenfalls ein Fertigbau mit Blechdach. Trotz des schönen Wetters wirkt die Siedlung ärmlich, fast ein bisschen trostlos. Wären die kleinen gepflegten Vorgärten nicht, sähe die Siedlung ein bisschen wie ein Gefangenenlager aus. So erinnert sie an eine Laubenkolonie. Nur Kinder sind keine zu sehen.

Von Gefangenen ist sie auch erbaut worden. Excalibur liegt in Catford, das zum Bezirk Lewisham im Südosten Londons gehört. Die Gegend ist im Zweiten Weltkrieg stark zerbombt worden. 1946 zog die britische Regierung deutsche und andere Kriegsgefangene heran, die diese Häuser in Windeseile zusammenbauten, um die durch den Krieg obdachlos gewordenen Menschen unterzubringen. Angeblich haben die Deutschen auf der Gemeindewiese heimlich ein Narzissenbeet in Form eines Hakenkreuzes angelegt, aber das gehört wohl ins Reich der Legende.

Insgesamt bauten Kriegsgefangene 150.000 solcher Häuser in ganz Großbritannien. Wie viele davon noch stehen, weiß niemand genau. Die meisten sind wohl abgerissen. Sie aufzustellen dauerte nicht lange: Die Wände wurden auf eine Betonplatte montiert, darauf ein Asbestdach – fertig waren gut 50 Quadratmeter Wohnfläche. Die Regierung war damals so stolz auf die Häuser, dass der Prototyp in der Tate-Galerie ausgestellt wurde. Man nannte sie „Paläste für das Volk“, sie sollten zehn bis fünfzehn Jahre halten.

Für diese Siedlungen war der damalige Gesundheitsminister Aneurin Bevan zuständig. Er gehörte dem linken Labour-Flügel an und schuf Großbritanniens Gesundheitssystem. Die kleinen Fertigbauhäuser hat er einmal als „Kaninchenställe“ bezeichnet. Doch die Architekten, die lieber Hochhäuser auf die zerbombten Flächen setzen wollten, konnten sich nicht durchsetzen. Umfragen hatten ergeben, dass die Briten am liebsten in Bungalows mit eigenem Garten leben wollten.

Wahrscheinlich haben sie dabei nicht an Siedlungen wie Excalibur gedacht. Doch die Häuser waren billig, sie kosteten den Staat tausend Pfund pro Stück, und die Menschen zogen gerne in diese Häuser ein, weil sie Innentoiletten hatten. Ursprünglich gab es lediglich einen kleinen Kamin im Wohnzimmer, die meisten Bewohner haben nachträglich Gaszentralheizungen eingebaut. Aber auch das reicht kaum, um die Häuser zu beheizen.

„Im Winter herrschen morgens manchmal nur 14 Grad im Haus“, berichtet Kay Sim. „Es kostet ein Vermögen, das Haus zu heizen. Meine letzte Vierteljahresrechnung für Gas betrug 320 Pfund.“ Die 63-Jährige lebt seit 21 Jahren in der Mordred Road. „Wir haben diese Häuser geliebt. Vor 50 Jahren waren sie prima, heute nicht mehr.“ Der 74-jährige Bryan Steed wohnt seit 28 Jahren in der Ector Road, er gibt ihr Recht. „Auf den Pullovern hinten im Schrank findest du grüne Algen“, sagt er. Die Wände sind nur zweieinhalb Zoll dick. „Es gibt keine Isolierung, die Wärme geht sofort verloren.“ Früher hat Steed gegen den Abriss der Siedlung gekämpft, heute ist er anderer Meinung: Das Angebot des Stadtrats sei anständig, sagt er.

Der Stadtrat von Lewisham will die Excalibur-Siedlung abreißen, weil die Häuser nicht den Richtlinien entsprechen. Sie schreiben vor, dass Häuser „trocken, sicher und warm“ sein, über „moderne Badezimmer und Küchen“ verfügen sowie in gutem Allgemeinzustand sein müssen. Nichts davon trifft auf die Excalibur-Siedlung zu.

Es würde 8,4 Millionen Pfund kosten, um sie auf das geforderte Niveau zu bringen. Das seien sie nicht wert, meint der Stadtrat. Für 175 Millionen Pfund könnte man die Siedlung durch moderne Häuser ersetzen, und zwar 460 Stück statt der bisherigen 187. Das entspräche der Bebauungsdichte der Umgebung.

Tatsächlich wirkt Excalibur wie ein Fremdkörper in diesem Teil Londons. Ein Bus fährt alle Viertelstunde zum Bahnhof in Lewisham, von wo die Magnetbahn durch das moderne Finanzzentrum Canary Wharf in die City schwebt. Eine andere Welt. Excalibur mit seinen gepflegten Hecken, den niedrigen Holzzäunen und den Eichhörnchen in den Vorgärten sei wie ein Dorf, findet Blackenden.

„Lewisham“, sagt er und zeigt auf die typischen zweistöckigen Londoner Häuser aus braunem Stein in der Nähe, „steht in der Verbrechensskala an zehnter Stelle in Großbritannien, aber unsere Siedlung ist praktisch frei davon. Es gibt keine Einbrüche, keine Graffiti. Jeder kennt jeden, und wir passen aufeinander auf. Wegen der lockeren Bebauung hat man von jedem Punkt einen guten Überblick über die Siedlung.“

Die Beschwerden über den schlechten Zustand der Häuser lässt er nicht gelten. „Wenn es im Haus feucht ist, stimmt irgend etwas nicht“, sagt er. „Man meldet das dem Stadtrat, und der sorgt dafür, dass die Sache in Ordnung kommt. Das ist wie in anderen Sozialbauten. Sicher, die Häuser sind nicht besonders warm, aber es handelt sich nun mal um freistehende Gebäude.“

Blackenden hat früher als Polier auf dem Bau gearbeitet, doch als er vor einigen Jahren lungenkrank wurde, musste er den Job aufgeben. Im Wohnzimmer mit der hellen Couch und dem dazu passenden Sessel hat er zwei Spiegel aufgehängt, damit der Raum größer wirkt. Eine silbern angestrichene Sperrholzplatte, mit der die Wand verkleidet ist, zeugt von der Vergangenheit: „US Army“ ist ins Holz geprägt.

„Excalibur ist die größte Siedlung ihrer Art in Europa“, sagt Blackenden. „Sie ist Teil der Kriegsgeschichte unseres Landes. Es wäre ein Verbrechen, sie abzureißen.“ Doch dazu kommt es wahrscheinlich gar nicht. Die Bewohner haben sich an das Kulturministerium gewandt und einen Antrag auf Einstufung der Siedlung samt Kirche als schützenswertes Kulturgut gestellt. Die Behörde für englisches Kulturerbe hat das in einem Gutachten befürwortet. Nun wartet man auf eine Entscheidung der Kulturministerin Margaret Hodge, die noch in diesem Monat fallen soll. „Die Argumente für den Schutz der Siedlung sind überzeugend“, sagte ein Sprecher des Ministeriums.

„Es sieht gut aus“, glaubt auch Blackenden, „aber ich bin erst beruhigt, wenn wir es schriftlich haben.“ Der Stadtrat will trotzdem eine Befragung unter den Bewohnern durchführen. Blackenden ist davor nicht bange. „Unsere eigene Umfrage hat ergeben, dass 88 Prozent für den Erhalt der Siedlung sind.“ Auch Eddie O’Mahoney und seine Frau Ellen sind dafür. Sie gehörten zu den Ersten, die 1946 in Excalibur eingezogen sind. Während des Krieges war Eddie bei einem Artilleriekorps in Indien und Singapur eingesetzt. Anfangs war er nicht begeistert von der Vorstellung, in einem Fertighaus zu wohnen. „Ich hatte lange genug in Zelten und Blechhütten gewohnt“, sagt er, „aber als wir sahen, dass es eine Innentoilette und ein Badezimmer mit beheizbarem Handtuchhalter gab, war die Sache entschieden.“

Bis zu seiner Pensionierung arbeitete der heute 88-Jährige beim Finanzamt. Danach kaufte er das Haus für 65.000 Pfund. „Unsere beiden Söhne sind hier aufgewachsen. Im Winter mussten sie manchmal Eiszapfen von der Decke pflücken. Aber es wäre blanker Vandalismus, die Häuser abzureißen. Ich würde mein Haus nicht gegen den Buckingham-Palast eintauschen – nicht mal mit der Queen als Zugabe.“