„Es stehen eine Menge williger Rekruten bereit“

Der britische Konfliktforscher Paul Rogers über die Stärke von al-Qaida, die Fehler im Anti-Terror-Kampf und das Risiko weiterer Anschläge

taz: Professor Rogers, al-Dschasira hat ein neues Video von Ussama Bin Laden veröffentlicht. Angenommen, es ist authentisch – zeigt es ihrer Meinung nach Stärke oder Schwäche von al-Qaida?

Paul Rogers: Es zeigt natürlich, dass die Führung noch existent ist. Es wäre sicherlich falsch, daraus zu schließen, dass die Organisation sehr stark ist. Aber es ist symbolisch sehr bedeutsam, dass es bis jetzt nicht möglich war, Ussama Bin Laden gefangen zu nehmen. Offensichtlich ist auch, dass viele der Organisationen, die lose mit al-Qaida verbunden sind, weiterhin sehr aktiv sind.

Sie behaupten in einer in dieser Woche veröffentlichten Studie, der Anti-Terror-Krieg sei weitgehend erfolglos gewesen. Worauf basiert diese Behauptung?

Erstens gab es in den vergangenen 18 Monaten Angriffe auf ein weites Spektrum westlicher Ziele – mehr noch als in der Zeit vor den Verbrechen des 11. Septembers. Nehmen Sie nur die Bombenanschläge in Casablanca, Riad, Jakarta, Bali und Mombasa oder den Anschlag auf deutsche Touristen in einer Synagoge in Tunesien – und es gibt noch mehr solcher Beispiele. In der Zeit seit dem 11. Spetember wurden etwa 350 Menschen getötet und 1.000 verletzt.

Sie zählen Attentate auf, die gemessen an den Anschlägen vom 11. September 2001 relativ klein waren. Waren die USA also nicht doch erfolgreich?

Es ist zweifellos richtig, dass die großen Organisationen wie al-Qaida und ihre Verbündeten nicht in der Lage waren, große Anschläge in den USA selbst zu verüben. Aber man muss auch den Preis sehen: Die von den USA und anderen als Teil des Kampfes gegen den Terror geführten Kriege haben ungeheuer viele Unschuldige das Leben gekostet.

Das Weiße Haus hat in dieser Woche einen eigenen Bericht vorgelegt. Darin weist die Bush-Regierung darauf hin, dass zwei Drittel der Al-Qaida-Führung getötet oder festgenommen seien. Ist das kein Erfolg?

Es ist in gewisser Weise ein Erfolg, aber es ist auch klar, dass sich eine neue Führung etabliert. Und dafür stehen eine Menge williger Rekruten bereit. Es gibt viele Anzeichen für einen starken Anstieg antiamerikanischer Ressentiments vor allem im Nahen Osten. Wenn sie es global betrachten, gibt es nicht mehr die Sympathien, die es unmittelbar nach den Verbrechen vom 11. September für die USA gab. Das schafft eine Situation, in der die Unterstützung für radikale Haltungen eher steigt als sinkt.

Was haben die USA denn Ihrer Auffassung nach falsch gemacht?

Ich denke, die Haltung gegenüber Irak und die Entschlossenheit, dies als Teil des Kriegs gegen den Terror zu sehen, ist ein großer Fehler. Jetzt haben die USA insgesamt fast 140.000 US-Soldaten als Ziele im Herz der arabischen Welt. Sie werden, ob zu Recht oder nicht, als Besatzungsmacht gesehen. Das ist langfristig sehr gefährlich.

War der Irakkrieg der einzige Fehler?

In dem so genannten Krieg gegen den Terror ist militärische Macht weitgehend kontraproduktiv. Es ist unbedingt notwendig, eine sehr viel bessere Vorstellung davon zu bekommen, warum diese paramilitärischen Organisationen das Ausmaß an Unterstützung bekommen, das sie haben – und es auch noch ausweiten können. Wer vorbeugend militärische Gewalt anwendet, der schafft noch mehr Opposition. Es ist auch völlig kontraproduktiv, rund um die Welt tausende Leute ohne Prozess festzuhalten. Mit militärischen Mitteln kann der Kampf gegen den Terror nicht gewonnen werden.

Angenommen, Sie verfassen in zwei Jahren eine weitere Studie zum Anti-Terror-Kampf. Ihre Prognose: Wird sie anders aussehen?

Das ist schwer zu sagen. Ich denke, es wird weiterhin paramiliärische Aktionen geben in verschiedenen Teilen der Welt. Es gibt das Risiko eines weiteren großen Angriffs auf die USA. Und ich fürchte, dass Irak ein großes Problem sein wird, selbst in zwei Jahren noch.

INTERVIEW: ERIC CHAUVISTRÉ