Trinken, bis die Mauer fiel

Woodstock war überall, auch in Thüringen. Ein neues Buch, „Bye bye, Lübben City – Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR“ setzt der Szene nun, ganz unostalgisch, ein spätes Denkmal

VON SANDRA LÖHR

Hunderte von langhaarigen, mit einem Parka und Jesuslatschen bekleidete junge Männer und Frauen fläzen sich auf einer Wiese. Sie trinken bis zum Umfallen, manche tanzen zu der Musik von Bob Dylan, ein paar Pärchen knutschen herum, und der eine oder andere schläft selig lächelnd mit einer Bierflasche in der Hand im Gras, während sich vorne auf der Bühne eine Band ihrem wilden Gitarrenschrammel hingibt. Nein, nicht Woodstock. Sondern das ländliche Thüringen oder Orte wie Glauchau, Aue und Hohenstein-Ernstthal wurden in den Siebzigerjahren am Wochenende in der DDR zu jenen Sehnsuchtspunkten umfunktioniert, in dem der junge Mensch seinen Alltag vergessen wollte.

Ostalgie ist in. Aber zurzeit ist sie schon wieder so in, dass sie eigentlich auch schon wieder out ist. Nachdem sie im letzten Jahr ihren vorläufigen Höhepunkt in jenen Fernsehshows hatte, die das Bild der niedlichen DDR zeichneten, war es nur eine Frage der Zeit, dass auch Bücher zum Thema erscheinen. Hippies in der DDR-Provinz! Das schreit nach Widerspruch – befriedigt aber auch gleichzeitig die Sehnsucht der West- und jüngeren Ostdeutschen nach jenem Exotismus, der gerne in fernen Ländern und anderen Kulturen gesucht wird – und der in Zeiten, wo es rund um den Globus immer gleicher aussieht, immer schwerer zu entdecken ist. Wenden wir uns also jenen aufregenden und geheimnisumwitterten Zeiten zu, wo einem die langen Haare noch gewaltsam auf der Polizeistation geschoren wurden oder das Betreten eines Rock-Konzertes eine Haftstrafe nach sich ziehen konnte.

„Er heißt Andreas, Micha oder Frank/ Und kommt aus Lübben, Frankfurt oder anderswo/ In der Woche ist er Koch oder Schlosser/ Oder Stift bei Meister Sowieso/ Am Wochenende steht er an der Piste/ Und zeigt seinen Daumen vor/ Die Musik, die da gespielt wird, wo er hin will/ Hat er schon lange im Ohr/ Bye bye Lübben City/ The sun ain’t gonna shine anymore.“

Es war die Band Monokel, die 1979 mit diesem Song ihrer Szene ein Denkmal setzte. Besungen wurde der typische DDR-Blueser, der unter der Woche malochte und am Wochenende mit Hilfe von viel Alkohol und Musik den Ausstieg aus dem DDR-Alltag feierte. In der sozialistischen Gesellschaft, die den Mief der Fünfzigerjahre bis weit in die Siebzigerjahre hineintrug, hatte das fast etwas von einer kleinen Revolution. Man trampte ins sozialistische Bruderland, um an die Sonnenstrände rund ums Schwarze Meer zu gelangen. Im Herbst oder Frühling fuhr man nach Warschau oder Krakau, „um einen Joint zu rauchen, sich ‚Love Story‘ im Kino anzusehen und das offene Klima der losen wie zahlreichen Studentenclubs zu inhalieren“. Natürlich las man auch Hermann Hesses „Der Steppenwolf“, „Unterwegs“ von Jack Kerouac, J. D. Salingers „Der Fänger im Roggen“.

Die Begeisterung für den Blues, die oft noch dazukam, hatte in der DDR eine lange Tradition. In den späten Vierzigerjahren infizierte der amerikanische Soldatensender AFN zahlreiche Ostdeutsche mit Jazz- und Blues-Musik. Von den sozialistischen Ideologen als „Volksmusik und Stimme der Geknechteten“ geduldet, verwandelte sich der Blues zu einem Fenster zur Welt. Zahlreiche Künstler aus der ganzen Welt traten auf, unter ihnen Louis Armstrong, der 1965 im Berliner Friedrichstadtpalast gastierte. Und weil die DDR darauf bestand, dass die Musikproduktion etwa zur Hälfte von einheimischen Gruppen kommen sollte, gründeten sich viele Bands, die mit deutschen Texten ihre ganz eigenen Blues- oder Folk-Songs schufen. Fast zwangsläufig verdünnte sich so die Wirkung der aus dem Westen importierten Musik. Mit dem Effekt, dass die stark verdünnten Tropfen, die ins Wasser des realsozialistischen Alltags tröpfelten, eine – der Homöopathie nicht unähnliche – größere Wirkung entfalteten. Eine vitale, ganz eigene Szene mit Bands wie Keimzeit, Drudenfuss, Engerling, Freygang, Simple Song oder Travelling Blues entstand, die noch in den späten Siebzigerjahren den Geist von Woodstock beschwor, sich aber im Gegensatz zu der in Westdeutschland nicht ansatzweise politisch verstand. Im Gegenteil. Am Wochenende wollte man einfach feiern.

„Aber was bleibt?“

Die DDR-Oberen waren über die Jugendbewegung, die da aus dem Westen in die DDR schwappte, verständlicherweise not amused, passten doch die langhaarigen Jugendlichen nicht zu dem Bild, dass sich die DDR gerne von sich selber machte. Schließlich gelte es, „die Schönheit des von Ausbeutung befreiten Menschen zu entfalten und nicht hinter Haarwülsten zu verbergen“. Die Stasi beschattete die Szene, es gab Verhaftungen, und einzelne Gruppen wie die Klaus Renft Combo wurden verboten. Die Berichte des MfS, von denen zahlreiche im Buch zitiert werden, lesen sich heute wie Berichte eines pathologischen Verfolgungswahns. Denn man befürchtete nichts weniger als eine Aushöhlung des Sozialismus und eine Verschwörung des Westens. Der wolle sich damit Stützpunkte in der Jugend schaffen, die in seinem Sinne „unmittelbar oder zum geeigneten Zeitpunkt in Vorbereitung des verdeckten Krieges wirksam werden sollen“, mutmaßte ein Stasi-Bericht. Ein anderer wird noch deutlicher: „Das Auftreten dieser Jugendlichen in dieser großen Zahl erweckt den Eindruck der Organisiertheit. Wer sind die Organisatoren?“, schrieb die Stasi in einem ihrer Berichte über die „dekadent-negativen Jugendlichen“, wie sie offiziell genannt wurden. Diese Erklärung, mit der zahlreiche operative Maßnahmen begründet wurden, blieb bis zum Fall der Mauer im Sprachgebrauch der DDR-Oberen.

Obwohl das Buch „Bye bye, Lübben City“ mit einer gewissen „Seht her – das gab es auch alles bei uns!“-Attitüde antritt und mit jeder Menge Fotos aufwartet, die die ostdeutschen Blumenkinder mit Jesuslatschen auf einer Wiese zeigen und auch Fotos wie die von „Manne-Tramper aus Berlin und urster Kumpel“, wie jemand mit Filzstift auf das Foto geschrieben hat, nicht fehlen, schafft das Buch es doch, der Ostalgie-Falle zu entgehen. Denn die vierzig Beiträge von unterschiedlichen Autoren – von ehemaligen Musikern, Wissenschaftlern und Szene-Aktivisten verfasst – verweigern sich einer einheitlichen oder abschließenden These vom „Hippietum“ in der DDR und verklären diese auch nicht. Stattdessen wird der Kosmos einer Jugendkultur, die letztendlich mit dazu beitrug, den Riss zwischen Volk und Regierung, zwischen Anspruch und Wirklichkeit, immer weiter zu vergrößern, von allen, teilweise auch widersprüchlichen Seiten beleuchtet. Klar wird vor allem, dass es bei dem Aufbegehren der ostdeutschen Jugend nicht um Kommunismus oder Kapitalismus ging, sondern es vielmehr ein Kampf gegen eine erstarrte, in den Moralvorstellungen der Fünfzigerjahre gefangene Gesellschaft war, die dem einzelnen ein Lebensmodell aufzwang, das sich schon längst überholt hatte.

„Aber was bleibt?“, fragt Christoph Dieckmann etwas resigniert in seinem Beitrag „Mythen der Erinnerung“, der im Buch als erster Text gesetzt ist, die ganze Bewegung aber retrospektiv betrachtet: „Der Anekdotenkosmos. Alte Platten. Ossi-Feten. Retro-Analytik, Seminare zur ostdeutschen Jugendkultur.“ Und was ist aus all denen geworden, denen die Musik einst alles bedeutet hatte, die dafür Bespitzelung, teilweise Haftstrafen auf sich genommen haben? In den Achtzigerjahren brachen auch in der DDR moderne Zeiten an. Die Punks kamen auf und verdrängten die Erben von Woodstock & Co. endgültig von ihrem angestammten subkulturellen Platz. Und als die Mauer endlich gefallen war und der Hunger nach all den West-Schallplatten und Konzerten endlich hätte gestillt werden können, war die Luft aus der Begeisterung so schnell raus wie aus einem geplatzten Luftballon.

Wie Christoph Dieckmann es formuliert hat: Viele Ostler verloren das Interesse, so „als verlöre die Musik Aura und Eros im selben Maße, wie sie überall zu kaufen war“.

„Bye bye, Lübben City – Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR“. Herausgegeben von Michael Rauhut und Thomas Kochan. Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2004, 480 Seiten, 24,90€