Putins Welt

Mit der Verhaftung von Yukos-Chef Michail Chodorkowski will Russlands Präsident vor allem eines: die liberalen, demokratischen Wirtschaftseliten des Landes einschüchtern

Putin will einen modernen Kapitalismus, in dem die Staatsmacht das Heft in der Hand behält

Diese Verhaftung ist ein Angriff auf das moderne, demokratische Russland. Schließlich war Chodorkowski nicht nur dessen reichster Unternehmer. Er hatte seine Unternehmensführung auch weitgehend westlichen Standards angepasst und dabei sogar etwas mehr Transparenz eingeführt, als sie für postsowjetische Firmen charakteristisch ist. Zudem hat Chodorkowski viel Geld in die kulturelle und wissenschaftliche Entwicklung fließen lassen. Er war damit auf dem Weg, eine Art russischer George Soros zu werden. Vor allem aber hatte Chodorkowski sich aufgemacht, seine Finanzmacht in politischen Einfluss umzusetzen. Er unterstützte liberale Strömungen und drohte, selbst eine politische Rolle zu übernehmen.

An solchen politischen Bestrebungen scheiterten bereits andere Oligarchen. Gusinski, der seine wirtschaftliche Macht dazu nutzte, liberale, offene und kluge politische Medien aufzubauen, kam bereits vor der Regierungszeit Putins in Schwierigkeiten. Als er den korrupten Regierungsstil des Jelzin-Clans schonungslos darstellen ließ, wurden er und seine Medien als Erste von Putins Justiz zur Strecke gebracht. Beresowski, der zum inneren Zirkel Jelzins gehörte und Putin mit seinem Geld und seinen Medien den Weg zur Macht geebnet hatte, geriet in juristische Schwierigkeiten, als er zu opponieren begann. Er verschwand ins Exil. Nun trifft es Chodorkowski.

Wie in den vorherigen Fällen betont Putin dabei, er als Präsident sei weder überdurchschnittlich gut informiert noch greife er in juristische Verfahren ein. Russland sei schließlich ein Rechtsstaat. Allerdings glaubt dies niemand. Ohne oberste Zustimmung hätte sich kein Staatsanwalt und kein Steuerfahnder an Chodorkowski, Gusinski oder Beresowski herangetraut.

Dabei sind die Vorwürfe gegen Chodorkowski juristisch vollkommen plausibel. Wie alle anderen russischen Oligarchen konnte er sein riesiges Wirtschaftsimperium natürlich nicht mit legalen Mitteln zusammenraffen. Mit Sicherheit hat er Steuern in großem Maßstab hinterzogen – sonst wäre sein Unternehmen längst schon verschwunden. Und natürlich waren in seiner Entstehung die Übergänge des Imperiums Chodorkowskis zum kriminellen Milieu fließend. Tragisch an diesem Fall ist allerdings, dass gerade Chodorkowski für eine Veränderung stand: für die immer deutlichere Abgrenzung vom organisierten Verbrechen, für die Hinwendung zu einer rationalen Unternehmensführung.

Wenn es um eine Revision der wilden Neunzigerjahre gehen sollte, müssten alle russischen Oligarchen angeklagt werden. Das aber hat Putin von Anfang an ausgeschlossen. Auch die Korruption hat der Präsident entgegen seinen Ankündigungen nicht bekämpft; er hat nur dafür gesorgt, dass darüber nur dann noch berichtet wird, wenn missliebige Personen zur Strecke gebracht werden soll. Indem Putin öffentlich in den kontrollierten Massenmedien eine andere Darstellung der Ereignisse ausgibt, zeigt er, dass er die Regeln des politischen Theaters beherrscht. Aber es gibt in Russland wohl niemanden, der davon ausgeht, dass Putin nicht hinter der Verfolgung Chodorkowskis steht. Bei der Mehrheit des Publikums stößt die Aktion ohnehin auf Zustimmung, weil Putin den verhassten Oligarchen und Demokraten auf die Finger haut.

Der Präsident setzt seine Machtapparate ein, um alle ihm potenziell gefährlichen Gegenkräfte zu entmachten. Die Provinzfürsten hat er durch eine Verfassungsreform gebändigt. Bewegungen von unten hat er nicht zu fürchten – weder in den Weiten des Landes noch in den wenigen Metropolen. Die einzige Gefahr, die ihn bedrohen konnte, kam von den liberalen Oligarchen. Diese konnten Einfluss nur über die Massenmedien oder über die liberalen Wirtschaftseliten gewinnen, die zwar eine Minderheit sind – aber für den Betrieb des Ganzen unentbehrlich.

Diese Eliten können durch das Vorgehen gegen Chodorkowski eingeschüchtert werden. Der Rücktritt des Chefs der mächtigen Präsidialverwaltung, Alexander Woloschin, ist in diesem Zusammenhang besonders bemerkenswert. Woloschin gehörte zum Netz der entschiedenen Reformer der frühen Neunzigerjahre. Als Chef der Kreml-Verwaltung gehörte er nicht nur zu Jelzins engerem Hofstaat; er war auch notorisch in dessen Korruptions- und Unterschlagungsaffären verwickelt. Dass er unter Putin im Amt blieb, war ein positives Signal an die Reformer.

Die Maßnahmen gegen Oligarchen mit politischen Ansprüchen verdeutlichen Putins politisches Programm. Er will einen modernen Kapitalismus, in dem die Staatsmacht das Heft in der Hand behält. Die Wirtschaft soll sich frei entwickeln; tatsächlich haben sich unter Putin Wirtschafts- und Steuerrecht in Richtung größerer Rationalität und Verlässlichkeit entwickelt. Aber die Macht bleibt beim Staat.

Wenn es um eine Revision der wilden Neunziger geht, müssten alle Oligarchen angeklagt werden

Ein Vergleich mit Italien zeigt interessante Ähnlichkeiten und Unterschiede. Totalitär sind weder die Intentionen Putins noch die Berlusconis. Beide aber wissen um die Macht der Medien. Unwichtige intellektuelle oder liberale Subkulturen mögen ihre Spielwiesen behalten und opponieren, solange sie nicht bedrohlich werden. Die Massenmedien aber sollen das breite Publikum möglichst entpolitisieren und – wenn nötig – durch unbekümmerte Mobilisierung vorhandener Ressentiments steuern.

Ein Unterschied ist, dass in Italien der Inhaber von Medienmacht den Staat übernommen hat und nun die Gesetze im Sinne eigener Gestaltungsfreiheit ändert; in Russland wehren sich Reste der Staatlichkeit gegen eine solche Übernahme. Das russische liberale Milieu wird durch die Verhaftung Chodorkowskis weiter geschwächt und entmutigt. Hoffnungen, die Reaktion der nationalen und internationalen Wirtschaft könnte Korrekturen erzwingen, werden sich wohl nicht erfüllen. Der Absturz der Yukos-Börsennotierung und der internationale Vertrauensverlust in Russland als Investitionsstandort sind eindeutig, aber kurzfristig. Die Kapitalflucht, die jetzt eingesetzt hat, wird sich umkehren, sobald deutlich ist, dass hier nicht rückwirkend der Rechtsstaat durchgesetzt werden soll, sondern ein politischer Machtkampf ausgetragen wird.

Das wird indirekt Rückwirkungen auf die Vitalität der russischen Gesellschaft haben. Der Schlag gegen Chodorkowski verstärkt den illusionären Schleier, den Putins Freunde und Kollegen von den Geheimdiensten über das gesellschaftliche Leben legen. In Russland ist nicht mehr erkennbar, wo die privaten Interessen in staatliche übergehen; unklar ist auch, ob privatwirtschaftliche Interessen den Staat oder private Interessen von Staatsangestellten die Wirtschaft unterwandern. Was in altkapitalistischen Gesellschaften als Korruption gelten würde, wird in Russland kaum als solche wahrgenommen. Vielleicht liegt ja gerade hierin – gegen den ersten Augenschein – die modernisierende Avantgarderolle Russlands. Dass damit eine höhere wirtschaftliche Effektivität verbunden sein wird, darf allerdings bezweifelt werden – wenn auch nicht in den russischen Massenmedien. ERHARD STÖLTING