Jede Kuh geht ihren Weg

Rund 500.000 Kühe leben in Neu-Delhi. Sie sind unantastbar, heilig und von Nutzen

Wer jemals in Neu-Delhi, der Hauptstadt des indischen Subkontinents, war, wird dies kaum glauben. Denn in der Elf-Millionen-Stadt, so scheint es, geht jede Kuh ihren eigenen Weg. Geschätzt wird, dass rund 500.000 Rinder im unüberblickbaren Gewirr der Stadt leben. Sie bringen den Verkehr zum Stillstand und so manchen Motorradfahrer durch ihre Fladen zum Rutschen. Das Problem mit dem Reittier des Gottes Shiva haben die Engländer den Indern beschert, als die britische Krone Delhi zur Hauptstadt machte. Damals wurde aus mehr als 300 kleinen Dörfern die Stadt erst gestaltet. Unter den Dörfern auch viele, in denen das eigentlich heilige Rind so manchem Bauer als Lebensunterhalt diente. Neu-Delhi wurde nach den Vorstellungen der Briten völlig umgekrempelt. Platz blieb dabei nicht viel für die Kühe. Anstelle von Weideplätzen entstanden breite Alleen.

Ob die Kühe eine Gefahr für die Autofahrer sind oder ob der hektische Verkehr eine Zumutung für das heilige Tier ist, das ist eine Frage der Perspektive. Und von denen gibt es in der Hauptstadt der heterogensten Demokratie der Welt viele. Den Sikhs ist es egal, die Muslime betreiben legale und illegale Schlachthöfe und die Hindus trinken nicht einmal ihre Milch. Die Kuh ist unantastbar für sie. Das Nebeneinander gelingt, ob aus Rücksicht oder Routine, ist nicht eindeutig zu sagen. Es sterben mehr Tiere an unbeabsichtigt verschluckten Plastiktüten als im Straßenverkehr.

Warum die Kuh heilig ist, darauf haben viele Hindus keine Antwort. Der Grund liegt zum Teil auf der Straße: Ihr Kot kann als Brennmaterial benutzt werden, ihre Milch kann zu vielerlei Produkten verarbeitet werden, und sie kann als Zug- und Pflugtier eingesetzt werden. Die Heiligkeit hat ökonomische Bedeutsamkeit. NICOLE TEPASSE