auf ex in moldawien von FLORIAN HARMS
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Der Eingang ähnelte dem Höllenschlund. Knarzend öffnete sich das Eisentor. Der Berg war bereit, mich zu schlucken. Ich war nicht sicher, ob er mich jemals wieder freigeben würde, wenn ich mich weiter vorwagte. Doch dann trat Sergei, mein robuster Fahrer, das Gaspedal seines noch robusteren Skodas durch, und wir preschten mit voller Kraft voraus – geradewegs hinein in den Berg.

Als sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah ich sie links und rechts vorbeiziehen: Dutzende, nein Hunderte, ach was: Aberhunderte von riesigen Weinfässern, jedes doppelt so hoch wie Sergeis Skoda, der immer weiter in den Berg hineinbrauste.

Nach zehn Minuten hielt Sergei mit quietschenden Reifen vor einem Weinfass, das noch viel größer war als alle anderen. Ich zwängte mich aus dem Wagen, da öffnete sich in dem Fass ein Türchen, aus dem eine Offizierin trat. Mit ihren herrischen Gesichtszügen, dem roten Kurzhaarschnitt und der sowjetähnlichen Uniform schien sie geradewegs einem James-Bond-Streifen der Siebziger entstiegen zu sein. Ich überlegte noch, ob sich in der Spitze ihrer Stiefel wohl kleine Dolche verbergen mochten, da schmetterte sie mir mit tiefem Bass entgegen: „Willkommen in Cricova, im größten Weinkeller Europas! Sie befinden sich in einer ehemaligen Miene, 40 Kilometer lang. Sie wurde von deutschen Kriegsgefangenen gegraben. Ich bin Natalja. Und jetzt kommen Sie trinken!“

Sofort war mir klar, dass ich gehorchen musste. Ehrfürchtig schritt ich im Halbdunkel an Wandnischen vorbei, in denen Berge von Flaschen der Ewigkeit entgegendämmerten. Denn die kleine Republik Moldawien zwischen Rumänien und der Ukraine hatte ihren Staatsschatz statt in Gold oder Aktien in Wein angelegt. Jetzt lag dieses Allerheiligste direkt vor mir und ließ mich erschauern.

Fort Knox ist eine Ramschbude dagegen. In einer Nische fand ich eine Flasche süßen Rotwein aus Jerusalemer Trauben, Jahrgang 1902. Nebenan lagerte die komplette Weinsammlung von Hermann Göring inklusive eines Stapels Rothschild Pauillac 1er Cru von 1936. All das hatten die Sowjets 1947 hierher gebracht. „Kommen Sie trinken!“, befahl Natalja wieder und schob mich in ein Gewölbe. Darin prangte über einer 30 Meter langen Tafel eine riesige Weltkarte, in der die obligatorischen Länderfähnchen nicht fehlten. Damit man immer weiß, wo der Feind trinkt. Dann entkorkte Natalja die erste Flasche, füllte mein Glas randvoll und schmetterte: „Los, auf ex!“

Ein Seitenblick auf eine Tafel an der Felswand verriet mir, wer hier unten schon alles abgefüllt worden war: Chruschtschow, Gagarin (zwei volle Tage lang!), Gorbatschow, Jiang Zemin, Samaranch. Kein Zweifel: Die Lady war bereits mit härteren Gegnern fertig geworden. Also gehorchte ich und mühte mich, mir eine ansehnliche Portion des moldawischen Staatsschatzes einzuverleiben. Nach der sechsten Flasche war Natalja zufrieden und erlaubte Sergei, mich abzutransportieren. „Kommen Sie wieder mal nach Moldawien! Wir haben hier noch weitere 900.000 Flaschen liegen!“, war das Letzte, was ich hörte, als Sergei mich in seinen Skoda schleppte. Ich war mir nicht sicher, ob er den Ausgang finden würde.