Die Hooligans von Osttirol

Ein deftiger Weihnachtsbrauch

Die hässlichen Gestalten zwischen Mensch und Tier vergreifen sich an jedem

VON EDITH KRESTA

Nieselregen. Die Nässe in dieser nebligen Dezembernacht kriecht unter die Haut. Kein Wetter, um archaischen Weihnachtsbräuchen im Osttiroler Lienz zuzuschauen, eigentlich überhaupt kein Reisewetter, auch nicht für dieses Skiparadies, das ohne Schneehäubchen kaum die Atmosphäre winterlicher Alpenidylle verströmt. Doch dann kommt Stimmung auf: ohrenbetäubender Lärm, rhythmisches Schellengeläut. Mit grausigen Holzmasken, gewaltigen Haarschöpfen aus Rosshaar oder Schafsfell, in schweren Fellmänteln und mit riesigen Glocken, die an einem breiten Ledergut um den Leib geschnallt sind, stampfen etwa drei Dutzend Krampusse auf den Platz, um den sich hinter und vor der Absperrung das Publikum drängt. Ich stelle mich vorsichtshalber hinter die Absperrung. Schon rein akustisch walzen die Krampusse alles nieder. Das Geläut der Glocken macht Angst. Die hässlichen Gestalten zwischen Mensch und Tier, deren Fellkleidung vor Nässe stinkt wie Ziegenbock, rücken hautnah, vergreifen sich an jedem, der ihnen in die Finger kommt. Packen ihn mit beiden Händen am Revers und werfen ihn zu Boden. Zack! Bum! Peng! Und schmeißen sich dann mit ihrem ganzen Gewicht und der zusätzlichen Last ihrer Kleidung von ca. 20 Kilo auf ihr Opfer. Beweist ein rauflustiger Herausforderer Kraft und Standfestigkeit, wirft sich ein geballter Haufen von Krampussen auf ihn. Oberstes Ziel: schlägern, klein machen, bedrohen. Dabei wirken sie wie schwerfällige Unholde, denn das Gesichtsfeld ist durch die Masken stark eingeschränkt.

Ich traue meinen Augen nicht! Habe ich doch auf ein selbstverständliches Maß gesitteten Auftretens gehofft. Aber das Gebalge ist gnadenlos. Der junge Mann vor mir hat nicht nur Pullover, Hemd und Jacke beim Kampf zerschlissen und verloren, sondern humpelt nun mit nacktem Oberkörper und verzerrtem Gesicht vom Platz. Prellungen und Brüche sind zahlreich beim Krampuslauf. Vor allem, wenn der Schnee fehlt, der den Aufprall abfedert.

Die männliche Jugend sucht die Herausforderung, legt es auf den Kampf an. Testosteronschub. Die Damenwelt am Straßenrand kreischt, versteckt sich hinter der Absperrung oder hinter ihrer männlichen Begleitung. Nicht unbeeindruckt. Zumindest Michaela, meine Begleiterin, ist fasziniert. Sie ist seit Tagen von einem Krampusspuk zum anderen unterwegs. Sie findet es einfach „toll“. Warum? Das könne sie nicht beschreiben. Und schwups wird sie, die Abenteuerlustige, von einem Krampus gegriffen und – zugegebenermaßen zärtlich – auf den Boden geworfen.

Der Krampus ist in Österreich, was in anderen Gebieten Knecht Ruprecht, der Begleiter des Nikolaus, ist. Eine dem Teufel ähnliche Figur, die all das auf sich vereint, was der liebe, gute Nikolaus nicht hat: das Böse, das Aggressive, das Übergreifende. Ob Mann, ob Frau, der Krampus lässt an jedem die Sau raus.

Vor allem im Lienzer Nachbarort Madrei wird wild geschlägert. Touristen sind dort unerwünscht. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, der in Madrei regelmäßig Urlaub machte, soll im Krampuslauf ein sexuell unterlegtes Männlichkeitsritual gesehen haben. „Mag sein“, meint Michaelas Kollegin Gina bei einem Glas Glühwein zum Aufwärmen am Straßenrand, „in Zeiten von Sadomaso kann man sich das gut vorstellen.“

Sadomaso im ländlichen Tirol. Die Hooligans von Osttirol jedenfalls haben viel Sado und viele Fans. Auch wenn Gina ihnen bis heute lieber aus dem Weg geht. „Früher haben sie einem auf der Straße aufgelauert und einen mit einer Mischung aus Fett und Kohle beschmiert, dann hatte man nicht nur den Schrecken, sondern auch noch den Ärger zu Hause. Ich hatte immer wahnsinnige Angst vor ihnen“, erzählt sie.

Jährlich gibt es zahlreiche Verletzte beim Krampuslaufen, und jährlich werden es mehr Krampusse. Sie sind inzwischen in Vereinen organisiert. Dort lebt das handfeste Brauchtum, jenseits touristischer Vermarktung. Wer will sich schon verprügeln lassen, und welche Reiseversicherung käme für die Risiken auf?

Auch Josef Planer, der zierliche Bildhauer von Sankt Veit, hat den Brauch jahrelang praktiziert. Heute schnitzt er nur noch die Masken der Krampusse. Er weiß, wie man sich fühlt, umhüllt vom schweren Fellmantel und unsichtbar unter der Maske. „Da hat man plözlich ungeheure Kraft“, erzählt er. „Da traut man sich viel mehr und bekommt eine große Energie.“ So mancher begleiche, versteckt unter der Maske, alte Rechnungen. Nach ein paar Tagen als Krampus müsse man erst wieder „herunter- und zu sich kommen“, sagt Josef Planer.

Wehe, wenn sie losgelassen! Dann gibt es kein Halten mehr, und reichlich Alkohol enthemmt obendrein. Da nützt es auch nichts, wenn die modernen Masken des Josef Planer menschlichere Züge tragen als die traditionellen Masken. Zwischen 200 und 2.500 Euro kostet eine Maske. „Und die Nachfrage steigt“, weiß der Bildhauer. No risk, no fun. Der schlägernde Krampus hat den Sprung in die Spaßgesellschaft mühelos geschafft.

Michaela und Gina nehmen mich zum Abschluss des Lienzer Krampuslaufs mit auf einen Schluck Pregler, den einheimischen Obstler, bei einer befreundeten Familie. Dort soll das Spektakel der Nikolausnacht weitergehen. Brav servieren die drei Kinder Süßigkeiten. In der Stube Eckbank, Kreuz und Kachelofen. Alpengemütlichkeit. Bis der Nikolaus im Geleit sechs lärmender Krampusse eintrifft. Nach weihevoller Ansprache des Nikolaus kommen die Krampusse zum Zug. Sie sind Kinderschreck, das Böse an sich, das die heile Welt der Familie bedroht. Sechs schauerliche Krampusse versuchen, uns und den Bauersleuten den schweren Holztisch wegzuziehen. Zerren, stoßen, schubsen, rücktsichtslos und mit großer Gewalt. Es gelingt ihnen fast. Doch das Gute obsiegt! Wie bösartige Kobolde trollen sich die Krampusse schließlich davon. Friede sei mit euch!

Der große Krampuslauf in Lienz findet Sonntag, den 30. 11., statt und dann die ganze Woche. Höhepunkt ist am 5. 12. Information: Osttirol Werbung, Albin-Egger-Straße 17, 9900 Lienz, Österreich, Tel. +43 48 52 65 33 3, Mail: info@osttirol.com, www.osttirol.com