Der Liebling des Westens

VON ERHARD STÖLTING

Immer wieder wird von der Blindheit des Westens gegenüber der russischen Politik gesprochen. Dabei gibt es zwei westliche Perspektiven: Die eine ist die liberale öffentliche im Westen und in Russland selbst. Die zweite ist die der Regierungen, denen die Liberalen zu Recht Doppelmoral vorwerfen. Wenn aber Regierungen ohnehin zur Doppelmoral tendieren, ist es müßig, sie anzuklagen. Interessanter ist es da, zu untersuchen, wie die Doppelmoral funktioniert, welche Interessen und Rücksichtnahmen eine Rolle spielen.

Ein anschauliches Beispiel ist Tschetschenien. Alle wissen, welche ungeheuerlichen Verbrechen dort begangen werden. Dass Journalisten ungelenkt nur selten von vor Ort berichten können, verstärkt die pessimistische Gewissheit. Aber die westlichen Regierungen schweigen zumeist – sieht man davon ab, dass sie zuweilen ein wenig die Menschenrechte betonen müssen.

Die offizielle russische Behauptung, der Krieg in Tschetschenien sei Teil des globalen Kampfes gegen den islamischen Terrorismus, mag insofern berechtigt sein, als die tschetschenische Bevölkerung buchstäblich mit Gewalt in diesen Terrorismus hineingezwungen wird. Die amerikanische Regierung freut sich über jede Unterstützung ihres eigenen globalen Kampfes.

Das westliche Schweigen hat also einen guten Grund. Putins politisches Schicksal war von Anfang an mit diesem Krieg verknüpft. Obwohl dieser weder kriegerische noch friedliche Lösungen erkennen lässt, will niemand im Westen einen Sturz Putins riskieren. Er ist ein Faktor der Stabilität. Man sollte daraus nicht schließen, dass westlichen Politikern Fragen der Menschen- und Bürgerrechte gleichgültig wären. Wenn es strategisch und taktisch opportun ist, können sie ihre humanitären Überzeugungen mit großem Nachdruck vertreten.

Im Falle der russischen Innenpolitik ist die Lage noch verwickelter, wie sich am Fall Chodorkowskis zeigte. Die liberale Öffentlichkeit im Westen und in Russland verurteilte seine Verhaftung und die weiteren juristischen Schritte gegen seine Firma Yukos. Immer wieder wurde die Besorgnis einer Rückkehr zum sozialistischen Winter erkennbar.

Immer auf dem Pfad der Tugend

Diese Furcht wurde auch dadurch verstärkt, dass Chodorkowski sein Imperium zwar mit den üblichen räuberischen Methoden der frühen Neunzigerjahre erworben hatte. Aber er hatte sich gewandelt: Anders als andere Oligarchen hatte er produktiv in Russland investiert, moderne Managementmethoden eingeführt und an die Stelle russischer öffentlicher Intransparenz die amerikanische gesetzt. Das Vorgehen gegen ihn konnte als Schlag gegen die marktwirtschaftliche Reformpolitik überhaupt gesehen werden.

Die Geschäftswelt in Russland und im Westen reagierte allerdings unaufgeregt. Niemand sah eine endgültige Abkehr vom Pfad marktwirtschaftlicher Tugend – allenfalls eine Irritation. Immerhin hatte Putin das Steuersystem und Wirtschaftsgesetze auf einen Weg gebracht, der Russland für Investoren interessanter machte, als dies unter Jelzin je der Fall gewesen war. Und diese Reformen sind nicht abgeschlossen.

Offenbar ging es also vor allem um die politische Macht. Chodorkowski finanzierte die liberale Opposition und ihre Presse und formulierte eigene politische Ambitionen. Wie im Falle der früher entmachteten liberalen Oligarchen Gusinski und Beresowski ging es dann um die Ausschaltung einer potenziell bedrohlichen Opposition. Russland entfernte sich offenkundig immer weiter vom Ideal einer Zivilgesellschaft.

Wiederum gab es von den USA und ihren Verbündeten keine Proteste. Die westlichen Regierungen akzeptieren das Bemühen Putins, seine Macht zu stabilisieren und demokratischere Verhältnisse erst gar nicht entstehen zu lassen. Der Westen ist offenbar an der Stabilität interessiert, für die Putin steht. Niemand fürchtet eine Rückkehr zu sowjetischen Verhältnissen. Dafür wäre Russland inzwischen auch viel zu schwach – wirtschaftlich wie militärisch.

Dass die russische Regierung nicht die Korruption und die staatliche Ineffizienz beseitigte, sondern die Berichterstattung darüber, wurde offensichtlich als Faktor der Stabilisierung gesehen. Putin hatte eben die politische Bedeutung der Medien begriffen. Eine Rückkehr zur sozialistischen Langeweile gab es auch nicht. Kein Wunder, dass sich Putin und Berlusconi sympathisch sind.

Was der offizielle Westen schätzt, ist also vor allem Verlässlichkeit. Putin hat die Geheimdienste, aus denen er selbst kommt, an sich binden können. Er hat die Armee, die einst gegen seinen prowestlichen Kurs opponierte, an die Kandare genommen. Er hat die nationalistischen Milieus insgesamt durch die staatliche Selbstdarstellung in einer bunten Mischung von sowjetischen und zaristischen Symbolen eingebunden und damit ein Gegengewicht zur Kränkung des sowjetischen Großmachtbewusstseins geschaffen.

Gegenüber dem chaotischen, kreativen, hoffnungslosen, kriminellen und lustvollen Russland der Ära Jelzin nach dem Zusammenbruch der Aufbruchshoffnungen hatte Putin die Macht der zunehmend eigenmächtig agierenden Gouverneure beschnitten. So weit, dass wieder von einem Übergewicht des Zentrums die Rede sein konnte. Ein weiterer Zerfall Russlands wäre nicht im Interesse der westlichen Umwelt gewesen. Putin konsolidierte.

Auch das Vorgehen gegen die liberale Öffentlichkeit, der mit rechtsstaatlichen Prinzipien unvereinbare Einsatz der Justiz, wurde im offiziellen Westen toleriert. Das galt sogar für das Vorgehen gegen Chodorkowski: Eine größere Beteiligung amerikanischen Kapitals an der Erdölfirma Yukos stand kurz vor dem Abschluss. Wäre es dazu gekommen, wäre jedes regulierende oder strafverfolgende Handeln gegen Yukos auf den Widerstand der amerikanischen Regierung gestoßen. Amerikanische Interessen wären unmittelbar zu einem innenpolitischen Machtfaktor in Russland geworden. Putins Linie, auf der Souveränität des Staates zu bestehen, wurde im Westen hingenommen. Auch hier protestierte die US-Regierung nicht.

Kein widerwurziger Domestik

Natürlich spielt neben dem Interesse an russischer Stabilität auch Putins Bereitschaft zu kooperieren eine Rolle – etwa in der Irakfrage. Der Präsident und mit ihm die russischen Massenmedien kritisierten zwar das amerikanische Vorgehen, aber ein ernsthafter Konflikt, wie im deutschen Falle, folgte daraus nicht. Russland wurde eben nicht als widerwurziger Domestik angesehen.

Diese Konstellation hat einen geostrategischen Hintergrund, der sowohl Transkaukasien wie Mittelasien betrifft. Wirtschaftlich und militärisch ist Russland zu einer Mittelmacht geschrumpft. Schritt für Schritt drängt der Westen, vor allem die USA, den noch bestehenden russischen Einfluss zur Seite. So geht die Pipeline von Aserbaidschan ins türkische Ceyhan durch Georgien und umgeht russisches Territorium. Amerika will Georgien in aller Vorsicht fest an sich binden. Was sich als separatistische Konflikte zwischen georgischer Zentrale und abtrünnigen Regionalmächten darstellt, ist auch ein Konflikt zwischen den USA und Russland. Schewardnadse hatte vielleicht Recht mit seiner Vermutung, dass sich die Amerikaner einen deutlichen antirussischen Kurs Georgiens wünschen.

Nirgendwo im ehemals sowjetischen Mittelasien sind demokratische Strukturen entstanden. Im Gegenteil: Einige Länder haben bereits das Stadium bizarrer Diktaturen erreicht, die einen Vergleich mit Saddam Husseins Irak nicht scheuen müssen. Daran stoßen sich aber weder der offizielle Westen noch das offizielle Russland. Die russische Regierung sucht ihren Einfluss zu bewahren, die amerikanische Politik versucht in aller Höflichkeit den russischen Einfluss zurückzudrängen und sich selbst als regionale Führungsmacht zu etablieren. Einen offenen Konflikt kann und will hier niemand riskieren, aber die schwache ehemalige Hegemonialmacht muss Schritt für Schritt der potenteren gegenwärtigen nachgeben.

Diese Konkurrenz wird eher diskret ausgetragen. Die mittelasiatischen Diktaturen etwa haben jegliche demokratische Opposition unterdrückt. Nur die islamistischen Strömungen üben noch einen wirksamen Widerstand aus. Aber gegen einen militanten Islam, der den Westen bekämpft und mit ihm Russland als westliche Macht und der die nationalen Herrschaftsgruppen als Agenten des Westens sieht, stimmen die Interessen überein. Dass beide auch in Mittelasien erst die Probleme schaffen und schrittweise unlösbar machen, mag bei aller Konkurrenz eine wesentliche Basis wechselweitiger Rücksichtnahme sein.

Dass die menschenrechtlich orientierten Liberalen im Westen und die schrumpfenden liberalen intellektuellen Milieus das nicht so verstehen wollen, spricht moralisch für sie.

Erhard Stölting ist Professor für politische Soziologie in Potsdam. Mitte der Achtziger war er als taz-Auslandsredakteur für Osteuropa zuständig