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: Die Opposition in der Ukraine sollte sich auf keinen Kompromiss einlassen

Die Auseinandersetzungen zwischen den Machthabern in der Ukraine und den Anhängern des vermutlichen Wahlsiegers Juschtschenko könnten zu einem historischen Ereignis werden: einer Neugründung der Ukraine. Das wollen Präsident Kutschma und Premier Janukowitsch natürlich nicht. Sie streben einen Kompromiss an, der Juschtschenko allmählich in den Hintergrund drängt. Janukowitsch könnte als Präsident dann schon bald so skrupellos weiterwursteln wie Kutschma bisher. Putins Russland hätte einen zuverlässigen, schwachen Verbündeten und die westlichen Anrainerstaaten der Ukraine hätten eine scharf gezogene Ostgrenze.

Alle anderen Lösungen beschwören ein neues Kapitel der ukrainischen Geschichte herauf. Ohne einen Kompromiss werden kurz- oder mittelfristig jene obsiegen, die sich um Juschtschenko scharen – die Demokraten, die Liberalen und die ukrainische Nationalbewegung. Juschtschenko selbst könnte zu einer großen historischen Gestalt werden. Das symbolische Arsenal ist da: die aufgewühlten Menschenmengen, die Farbe Orange, die Fahnen, die Hoffnungen. Zudem engagieren sich die Veteranen der polnischen Solidarność, die im kritischen Augenblick die polnisch-ukrainische Aussöhnung verankern und so zum endgültigen Anschluss der Ukraine an „Europa“ beitragen wollen.

Im Rückzug von Janukowitsch oder in Neuwahlen bestünde der kurzfristige Sieg von Juschtschenko. Das Land würde rasch und zunächst enthusiastisch einen westlichen Kurs einschlagen. Natürlich ließen sich politische und wirtschaftliche Alltagsmiseren nicht vermeiden. Aber wenn auch eine sowjetische Nostalgie nicht ausgeschlossen wäre, sie spielte keine zentrale Rolle.

Die mittelfristige Variante wäre eine gewaltsame Niederschlagung des Aufstands. Sie würde die Anhänger Juschtschenkos zwar kurzzeitig entmutigen. Gegen den Mythos des heroischen Volkes aber, auf den sich jede Opposition berufen könnte, hätten auf die Dauer weder Janukowitsch noch seine Nachfolger eine Chance.

Die Situation ist also paradox: Der Westen will einen unblutigen Kompromiss – aber der würde Russland nützen. Russland hat sich auf die herrschenden Ganoven festgelegt. Durch deren kurzfristigen Sieg würde es jedoch die Macht über die Ukraine endgültig verlieren. ERHARD STÖLTING