In den historischen Augenblick gestolpert

Der Kölner Fotograf Herby Sachs verbringt seinen Urlaub im mexikanischen Chiapas, als in der Nacht zum 1. Januar 1994 die „Zapatistische Befreiungsbewegung“ (EZLN) San Cristóbal besetzt. Und macht als erster Bilder von Subcomandante Marcos

VON ELMAR WIGAND

Es gibt Leute, die feiern Silvester daheim, im Kreise ihrer Lieben. Andere mieten sich mit Freunden ein Häuschen am Meer oder fahren in die Berge. Der Kölner Fotograf Herby Sachs feierte den Jahreswechsel vor 10 Jahren bei der Familie eines Freundes tief in der mexikanischen Provinz. So stolperte er in einen historischen Augenblick. Und fotografierte.

Wir müssen ihm glauben, wenn er sagt, er habe nicht gewusst, was am 1. Januar 1994 in San Cristóbal de las Casas, der Provinzhauptstadt des mexikanischen Bundesstaates Chiapas, los brechen würde. Es war halt Zufall. Oder sein Riecher. Oder Schicksal.

Auffällig viele Frauen

Wir stellen ihn uns vor, wie er am Morgen noch bezwitschert vom Rausch der Silvesternacht im Bett liegt, wie der Freund den Telefonhörer um 6.30 Uhr wieder auflegt – ein Bekannter hat gerade den Schlaf gestört mit einer Geschichte von Indios mit Waffen. Um kurz vor sieben ruft noch wer an, und jetzt erst checken der Kölner und sein Gastgeber, was los ist.

Herby Sachs greift seine Kamera mit dem 28-70 Zoom. Dummerweise hat er nur 8 Filme. Zwei weitere wird er später amerikanischen Touristen abkaufen. Sie fahren ins Zentrum. Weit kommen sie nicht, denn Busse sind quer gestellt, neben denen Bewaffnete mit neuen, zum Teil selbst genähten Uniformen patrouillieren: Indigenas, auffällig viele Frauen unter ihnen.

Ihre Ausrüstung ist uneinheitlich. Manche tragen Lederstiefel, andere Gummistiefel, nur wenige haben automatische Waffen, dafür reichlich Macheten. Und jene Holzgewehre, über die sich die bürgerliche Presse in den folgenden Wochen so köstlich amüsieren wird.

Aber sie sind nicht gekommen, um auf dem Rathausvorplatz traditionelle Tänze aufzuführen oder um Almosen zu bitten. Die Guerilleros der „Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) nehmen die Stadt ein. „Ya basta!“ Sie schließen die Polizisten in ihre eigenen Zellen ein und stellen in den Revieren Fotos von ermordeten Campesinos aus. Deshalb sind sie hergekommen. Weil die Großgrundbesitzer das Land seit Jahrhunderten okkupieren, weil ihre weißen Garden die Bevölkerung terrorisieren. Und weil Mexiko in der Freihandelszone NAFTA auch die letzten Reste kommunalen Eigentums – ein Überbleibsel der mexikanischen Revolution – zur Plünderung freigeben wird.

Am Neujahrstag 1994 brechen die Nachfahren der Mayas in örtliche Apotheken ein und decken sich mit Medikamenten ein, die für sie stets unerschwinglich waren. Ein Foto zeigt, wie Zapatistas in einem Meer von Medikamenten stehen, die auf die Straße geworfen wurden. Militärflugzeuge kreisen einige Stunden später über San Cristóbal.

Marcos als Popstar

Die EZLN hat mit 1.500 geschulten und militärisch organisierten Aufständischen gleichzeitig vier Bezirkshauptsitze angegriffen, unterwegs drei weitere und die Polizei und Militärtruppen dort überwältigt. Der Plan sieht vor, weiter zu marschieren, um zwei große Garnisonen der Bundesarmee anzugreifen. Im benachbarten Ocosingo wird dem dortigen EZLN-Regiment der Rückzug abgeschnitten. Die mexikanische Armee bombardiert. Die folgenden Tage werden mehrere hundert Tote bringen.

Herby Sachs hat – aller Wahrscheinlichkeit nach – das weltweit erste Pressefoto des Subcomandante Marcos gemacht – von einem jungen Mann, den noch keiner kennt, der gerade aus dem Rathaus des 25.000 Einwohner-Städtchens kommt, das seine Truppe soeben eingenommen hat. Bald werden die ersten Akten auf die Straße fliegen: die falschen Anklagen, die Schiebereien, die versammelte Dokumentation des verkommenen Treibens in der kalten Sprache der Bürokraten. Und die Leute vor dem Rathaus lesen es belustigt, staunend oder ungläubig. Dann werden die Papiere zerrissen oder verbrannt.

Herbys Foto zeigt einen schlaksigen Typen, dem eine MP lässig über die rechte Schulter baumelt. Er hat diese Bankräubervermummung, die große Teile der Augenpartie frei lässt. Seine Augen sind hellwach, er blickt um sich. Hinter ihm eine überraschte Menschenmenge, die irgendwie unschlüssig ist, was sie von alledem halten soll. Sympathie, Angst, Neugierde, Abwarten. Manche haben die Arme verschränkt und schauen diesem Typen ungläubig hinterher, der hier wichtig zu sein scheint, bei dem die Fäden zusammen laufen. Oder schauen auf diesen dreisten Fotografen aus Colonia/Alemania, der frech nach dem Motto „Was nicht verboten ist, ist erlaubt“ alles und jeden abknipst.

Den Subcomandante scheint es nicht zu stören, die EZLN will mit ihrem Aufstand in die Weltöffentlichkeit. Aber er guckt nicht in die Kamera, obwohl er auf sie zugeht oder Herby ihm vermutlich in den Weg gesprungen ist. Er guckt zur Seite, muss sich erst daran gewöhnen, nach zehn Jahren im Dschungel und um den Dschungel herum auf einmal nicht nur das Licht der Öffentlichkeit, sondern vielmehr den Weg zum Popstar zu betreten. Denn die Medien und ihre Stoßtruppen mit den Kameras brauchen Personen, Gesichter. Wie auch die Menschen Bilder brauchen.

Exklusivrechte

Irgendwann, viel zu schnell, sind Herbys Filme voll und auch keine Touristen mehr auf der Straße, die er darum bitten könnte. Er verlässt um 20 Uhr das Zentrum der Stadt, um neue Filme zu besorgen. Als er um 22.30 Uhr zurück kommt, sind die Zapatisten fort. Zurück Richtung Dschungel. Auf dem Weg erstürmen sie das Landesgefängnis von Chiapas und befreien hunderte von Campesinos.

Herby ruft am nächsten Tag in Köln an. Da hat man schon gehört, es kam in den Nachrichten. Auch wenn wir uns noch in einem Zeitalter befinden, das Handys lediglich aus Hollywoodfilmen kennt und Faxgeräte für Spezialistenausrüstung hält – das Internet gibt es schon und in Köln ist die „1. Erklärung aus dem lakandonischen Urwald“ aus der Feder des „Sub“ zu lesen.

Herbys ganz persönlicher Auftrag lautet nun, auf der Stelle zurückzukommen und um Gottes Willen seine Filme mitzubringen. Vermutlich sind die Exklusivrechte mit dem Stern schon ausgedealt. Spannende Geschichten können nicht so einfach enden. Schon gar nicht so unglaubliche wie diese.

Auf der anderen Seite des Atlantiks rückt die Staatsmacht an: Die mexikanische Armee beginnt, Chiapas abzuriegeln: Notstandsgebiet, Bürgerkrieg. Es fährt noch ein Bus. Es gibt noch einen Platz. Herby ergattert ihn. Am 3. Januar ist er zurück in Köln und legt sich schlafen. Die Filme werden von einem Kollegen entwickelt. Die Kontraste sind leider schlecht, auf den Filmen sind Fusseln. Aber was soll‘s: Es kommt drauf an, was drauf ist.