Ein bodenständiger Rebell

Der schwäbische Obsthändler Helmut Palmer wollte stets die Großen stutzen. Deshalb bewarb er sich mehr als 300-mal um politische Ämter im Südwesten. An Heiligabend ist er 74-jährig gestorben

VON RALPH BOLLMANN

Die wahre Kultkolumne stand an jedem Markttag auf der letzten Seite. Selbst im Schwäbischen Tagblatt, der bisweilen überschätzten Lokalpostille aus dem Unistädtchen Tübingen, machte die Annonce den feingeistigen Elaboraten des Chefredakteurs Christoph Müller dreimal pro Woche Konkurrenz. Die Texte waren weitaus kürzer und leichter zu verstehen. Stets verband der Obsthändler Helmut Palmer die Werbung für Äpfel oder Birnen mit seinen politischen Bekenntnissen. „Birnen einschalten. Trübe, schwarze und matte Birnen auswechseln“, hieß es da zum Beispiel, vor allem aber: „Die helle Birne Helmut Palmer einwechseln.“

Damit das Wahlvolk die Gelegenheit zum Einwechseln auch bekam, trat Palmer in seinem Leben rund 300-mal bei Wahlen an, ganz überwiegend für Bürgermeisterposten in schwäbischen Rathäusern. Kein parteiloser Kandidat war jemals so rastlos im Wahlkampfeinsatz wie der Rebell aus dem östlich von Stuttgart gelegenen Remstal, und keiner erzielte dabei so hohe Achtungserfolge wie er. In Schwäbisch Hall kam er 1974 sogar auf mehr als 40 Prozent.

Anders als sein Sohn, der für die Grünen im Stuttgarter Landtag sitzt, errang Palmer nie ein politisches Amt oder Mandat. Gerade deshalb aber wurde er zu einer festen Größe im öffentlichen Leben des Südwestens, zu einer Figur, wie sie nur in der politischen Kultur einer Region gedeihen konnte, von der schon die Bauernkriege ihren Ausgang nahmen. In der baden-württembergischen Kommunalpolitik scheren sich die Wähler von jeher weniger um Parteien. Sie bevorzugen bodenständige Persönlichkeiten und honorieren gleichwohl das Rebellische.

Ein bodenständiger Rebell war auch Palmer. Als Obsthändler genoss er selbst bei politischen Gegnern höchstes Ansehen und war bei den Bauern im Remstal für seine strengen Maßstäbe gefürchtet. Versuchte man ihm schimmelige Beeren anzudrehen, so hieß es, dann kippe er schon mal ganze Obstkörbe auf der Straße aus. Von ähnlicher Direktheit waren seine Methoden in der Politik. Dass er Konkurrenten stets als „mehr oder weniger verehrte Mitkandidaten“ ansprach und die Wähler als „liebe Manipulierte“, zählte da noch zu den harmloseren Beschimpfungen. Auf 33 Vorstrafen für Beleidigungen oder tätliche Übergriffe brachte er es, seit er 1957 zum ersten Mal für einen Bürgermeisterposten angetreten war. Insgesamt saß er fast zwei Jahre lang im Gefängnis, die einzelnen Aufenthalte dauerten zwischen zwei Tagen und drei Monaten.

Besonders gerne beschimpfte er seine Widersacher als „Nazis“, und das war bei ihm mehr als eine wohlfeile Floskel. Palmer, der während der Nazizeit in der schwäbischen Provinz als unehelicher Sohn eines jüdischen Vaters aufgewachsen war, wähnte sich bis zuletzt von Antisemiten umzingelt. „Seine Aggressivität im Umgang mit der Staatsmacht“ führte der frühere Stuttgarter Bürgermeister Manfred Rommel auf das Empfinden zurück, „er werde nach wie vor als Halbjude verfolgt“. Freilich habe er die Wunden aus der Kindheit „zu einem guten Teil selbst offen gehalten“, schreibt sein Biograf Michael Ohnewald.

So sehr waren bei ihm Persönliches und Politisches verwachsen, dass ihm auch das Beschneiden von Obstbäumen zum Politikum geriet. Während die Schwaben die Pflanzen stets auf Höhenwachstum trimmten und damit dem „Führerprinzip“ folgten, propagierte der Rebell lieber das Breitenwachstum. „Man muss die Oberen stutzen“, beschrieb Sohn Boris Palmer das Prinzip, „damit die Unteren, Kleinen Licht bekommen.“

Im vorigen Jahr trat Helmut Palmer, der zeitlebens gegen alle Parteien rebellierte, zu deren großer Überraschung in die SPD ein. Nach fünf Verhaftungen innerhalb eines Jahres habe er „schlicht Schutz gesucht“, erklärte er in einem Zeitungsinterview. „Und natürlich habe ich mich auch aus Überzeugung für die SPD entschieden, die Partei meines Freundes Hermann Scheer.“

Palmer, der 1996 an Krebs erkrankte, ließ sich auch durch seine angeschlagene Gesundheit nicht vom politischen Engagement abhalten. Es kam vor, dass er nur zwei Tage nach einer Operation schon wieder im Fernsehen debattierte – auch wenn er einmal klagte, seine Auftritte hätten „viele aufgeschreckt und doch zu wenig bewirkt“.

An Heiligabend ist der „Remstal-Rebell“, wie ihn die Lokalzeitungen stets nannten, 74-jährig in der Tübinger Uniklinik gestorben. Für seinen Grabstein wünschte er sich den Satz: „Er war besser als sein Ruf“. Doch war sein Ruf zuletzt wohl besser, als er selbst wahrhaben wollte.