In Freiheit umzingelt

Die Frau und die Tochter seines Fluchtgefährten brachten sich um, bevor sie abtransportiert wurden. Und seine Familie? Er weiß es nicht

AUS SEOUL MARCO KAUFFMANN

Der Mann schaut herum, als suche er jemanden. Aber es verhält sich gerade umgekehrt: Er kontrolliert, ob niemand da ist. Niemand, der nichts zu suchen hat in diesem Gerichtsgebäude in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. Der kräftige Mann gehört zur Vorhut von Kim Duk Hongs Begleitschutz. Erst dann öffnet sich die Lifttür, Leibwächter treten zur Seite und geben einen kleinen Mann mit Hut frei. Kim Duk Hong, mit weiß gestärktem Hemd und silberfarbener Krawatte, schreitet zügig auf den einzigen Tisch am Ende des Ganges zu, nimmt den schwarzen Hut ab und legt ihn sorgfältig auf die Bank neben sich.

Kim Duk Hong war Teil des diktatorischen Regimes von Nordkorea, ein Weggefährte des Chefideologen. Im Zentralkomitee der nordkoreanischen Partei der Arbeit saß der 65-Jährige in der internationalen Abteilung. Mercedes, Pastete, Marmorböden, Reisen – er hatte Zugang zu einer Welt, die Nordkoreas geschundene Bevölkerung nie sieht.

1997 floh Kim mit Hwang Jang Yop, dem Chefideologen. Eine Blamage für Diktator Kim Jong Il, ein gefundenes Fressen für die Geheimdienste in Südkorea. Da waren zwei aus Pjöngjangs Nomenklatura, die einiges zu erzählen hatten – über Massenvernichtungswaffen, den Widerstand gegen den Diktator, Arbeitslager.

Das Klickklack von Schuhen schallt aus dem unteren Stock hinauf. Die zivilen Polizisten, die links und rechts des schwarzen Hutes sitzen, recken ihre Hälse. Die Todesdrohungen, die der Überläufer in den vergangenen Wochen erhielt, sind variantenreich. Zwei Ampullen hochtoxischen Inhalts, ein Messer von 20 Zentimeter Länge, Zettel mit der Aufschrift: „Die Zeit ist reif, für deine Sünden zu zahlen.“ Angst? „Ich mache mir keine Sorgen. US-Präsident Bush will den Kampf gegen den Terrorismus weiterführen. Sollte mir durch einen nordkoreanischen Terrorakt etwas zustoßen, würde das womöglich das Ende des Regimes bedeuten. Die werden doch nicht so dumm sein.“ Er lacht.

Mit dem Schlachtruf „Weg mit Kim Jong Il!“ hat sich der Überläufer Kim jedoch auch im Süden Feinde geschaffen. Vor zwei Jahren beklagte er sich, der Wind habe sich um 180 Grad gedreht. Er sei geflohen, um das Regime im Norden zu bekämpfen, nun kämpfe er gegen die Behörden im Süden. Kim durfte keine Interviews mehr geben. Seine Bewachung zahlt der südkoreanische Staat noch, doch der wirbelige Alt-Apparatschick wird intensiver bewacht, als ihm lieb ist. Die so genannte Sonnenscheinpolitik des damaligen Präsidenten Kim Dae Jung, die auf Versöhnung und Annäherung an den Norden ausgerichtet ist, brachte den neuen Wind, der auch unter dem neuen Präsidenten Roh Moo Hyun weht. In diese Politik passten die zwei Überläufer nicht, als sie Nordkorea ein einziges Gefängnis nannten.

„Eigentlich ist es schlimmer als vor zwei Jahren“, sagt Kim, ein Mann mit wachen Augen, der einen wuchtigen Siegelring trägt. „Der Regierung hier gefällt es nicht, was ich sage, und sie will nicht, dass ich mein Wissen vor dem US-Kongress preisgebe.“ Sein Gesuch um einen südkoreanischen Reisepass, auf den jeder Nordkoreaner Anrecht hat, wurde eineinhalb Jahre verzögert. Die Regierung in Seoul insistiert, sie könne die Sicherheit des Topüberläufers in den USA nicht garantieren. Eine Schutzbehauptung, glaubt Kim, weshalb er an diesem Morgen in Seoul im Gerichtsgebäude sein Recht auf einen Pass einklagt.

Fragen wir ihn, wie der „Geliebte Führer“ Kim Jong Il tickt. Sitzt der Welt ein ausgekochter Stratege gegenüber, der stets von neuem zu überraschen vermag? Oder ein Verrückter? „Staatsgründer Kim Il Sung schuf ein Reich, das von Nebelschwaden umgeben ist.“ Und so halte es auch der Juniordiktator. „Nordkorea ist ein Theaterland, auf der Bühne sieht einiges ganz nett aus.“

Nordkorea habe nie im Ernst daran gedacht, das Atomwaffenprogramm einzufrieren. Nordkorea habe gelogen und würde wieder lügen, sagt Kim. Was rät der Insider der Außenwelt? Nordkorea die Daumenschrauben anzuziehen oder zu verhandeln? Kim antwortet nicht direkt. „Die Erfahrung mit dem gescheiterten Atomvertrag hilft bei der Entscheidung, wie wir mit Pjöngjang reden, wie wir das Regime anpacken sollen.“ Er plädiert nicht explizit für Sanktionen oder militärisches Vorgehen, wie die Hardliner, die ihn in die USA einladen möchten. Gleichzeitig unterstellt er europäischen Politikern eine gewisse Naivität. Auch das sagt er nicht direkt: „Ich rate den Europäern, hinzufahren nach Nordkorea. Wenn Kim Jong Il behauptet, seine Landwirtschaftsreform sei derjenigen Chinas überlegen, kann man das einfach überprüfen. Man muss bloß nachschauen, was es in beiden Ländern zu kaufen gibt.“ Wenn Kim den Namen des Diktators ausspricht, schwingt Verachtung mit.

1997, das Jahr seiner Flucht. Nordkorea stand inmitten der Hungersnot, durch die bis zu drei Millionen Menschen starben. Hunderttausende ernährten sich von Gräsern, Baumrinden und Ratten. Zur selben Zeit leistete sich die Herrscherfamilie ein Mausoleum für den Staatsgründer, das 890 Millionen Dollar gekostet haben soll. „890 Millionen – damit hätte man 3,6 Millionen Tonnen Getreide kaufen können“, rechnet Kim vor. Diese Missstände hätten ihn bewogen, zu fliehen, um vom kapitalistischen Süden auf einen Sturz des kommunistischen Nordens hinzuarbeiten. „Ich war mir sicher: Mit Kim Jong Il gibt es keine Reformen.“ Der Einzige, dem er sich anvertraute, war Hwang Jang Yop, der geistige Vater der nordkoreanischen Staatsideologie Juche (Autarkie) und Erzieher von Diktator Kim Jong Il. Sein langjähriger Weggefährte sollte zu seinem Fluchtgefährten werden.

Bei einem Besuch in Peking im Februar 1997 setzten sich die beiden von der nordkoreanischen Botschaft ab und fuhren im Taxi zur südkoreanische Vertretung. Es war eine Sensation. In der Vestontasche hatten sie Zyankalikapseln, falls etwas schief gehen sollte. Pjöngjang brauchte Tage, um sich von dem Schock zu erholen. Es folgten langwierige Verhandlungen mit Nordkoreas Alliiertem China. Schließlich reisten beide über die Philippinen aus. Im April 1997 landeten sie in Seoul, auf der Gangway siegreich die Arme zum Himmel reckend. Kim mit einem schwarzen Hut in der Hand, wie er nun auf der Bank im Gerichtsgebäude liegt.

Beide wussten, dass die in Pjöngjang zurückgebliebenen Familien in Pjöngjang einen hohen Preis würden zahlen müssen. Nordkoreas Strafsystem sieht Sippenhaft vor, Arbeitslager für Angehörige, über drei Generationen hinweg. Kims Frau war nicht eingeweiht. Eine gemeinsame Auslandreise wäre auch der Elite nicht erlaubt worden. „Es war eine unheimlich harte Entscheidung. Ich wusste, ich würde meine Familie opfern.“ Frau und Tochter seines Fluchtgefährten Hwang haben vor dem Abtransport ins Arbeitslager Selbstmord verübt. Kim Duk Hong weiß nicht, was mit seiner Frau und seinen Verwandten passiert ist. Er sagt, er habe seine Familie für einen höheren Zweck geopfert. Sein eigenes Schicksal müsse im Verhältnis zu jenem des ganzen koreanischen Volkes gesehen werden. „Ich bin seit sieben Jahren von meiner Familie getrennt, zehn Millionen Koreaner sind es seit fünfzig Jahren.“

Getrennt haben sich auch die Wege der beiden Topüberläufer. Sie reden seit zwei Jahren nicht mehr miteinander, nach 40 Jahren Freundschaft. Kim beschuldigt seinen langjährigen Mentor, er habe ihre gemeinsame Mission – auf den Sturz des Diktators hinzuarbeiten – verraten. Hwang habe sich von den südkoreanischen Behörden einseifen lassen, behauptet Kim. Der Juche-Architekt habe sich ein „Juche-Studienzentrum“ versprechen lassen. Als Gegenleistung halte sich Hwang mit Kritik an Nordkorea zurück, um die Sonnenscheinpolitik des Südens nicht zu trüben. Vorwürfe, die Hwang bestreitet.

Von der Familie getrennt, mit dem Freund im Streit und von Südkoreas Behörden kaltgestellt. Bitterkeit strahlt der Überläufer mit den Lachfältchen um die Augen aber nicht aus. Er blinzelt kampfeslustig und sagt zum Abschied: „Haben wir etwas Geduld – vielleicht im nächsten Jahr.“ Er schnappt sich seinen schwarzen Hut von der Bank. Die Begleiter schnellen hoch. Händeschütteln, eine Verbeugung. Die Leibwächter nehmen ihn in ihre Mitte.