Eine Mordmeldung

Fritz Morgenthaler – ein Schweizer Psychoanalytiker und Sexualforscher: Erkundungen zu seinem zwanzigsten Todestag

VON JAN FEDDERSEN

In der Erinnerung scheint es vor allem Volkmar Sigusch gewesen zu sein, der die Menschen im Zürcher Volkshaus zu trösten wusste – weil sie eines Trostes offenbar bedurften. Wäre sonst der Beifall für ihn so herzlich ausgefallen? Der Sexualwissenschaftler aus Frankfurt am Main, legendärer Mann der Achtundsechziger, Theoretiker und Interpret des richtig-falschen Sexuallebens im falsch-richtigen Leben, war zum Vortrag eingeladen: „Die neosexuelle Revolution“ war dieser betitelt, es ging um, so der Untertitel „Transformationen der kulturellen Sexual- und Geschlechtsformen in den letzten Jahrzehnten“. Da gab es gewiss viel zu berichten, auch für das Publikum, das überwiegend aus psychoanalytisch tätigen Menschen bestand. Man war in Zürich zusammengekommen, um Fritz Morgenthaler zu würdigen, zwanzig Jahre nach seinem Tod. Es galt, herauszufinden, was von ihm und seinem Forschen übrig geblieben ist, und – wichtiger vielleicht – was noch gültig und was unstimmig sein könnte.

Fritz Morgenthaler? Die modischsten Debatten um Gender Studies kommen ohne ihn aus – dabei hat er ihnen zugearbeitet, hat die klassisch-bürgerliche Orthodoxie von dem, was gesunde, gelungene Sexualität sein sollte und was eben nicht, ausgehebelt: Der Schweizer beanspruchte am Ende seiner Tage für sich, das Freud’sche Verständnis vom Sexuellen erweitert zu haben. Homosexualität galt ihm nicht grundsätzlich als Störung, sie war ihm, wie Heterosexualität, eine sexuelle Orientierung der gewöhnlichsten Art. Seelische Krankheiten entsprängen ihr nicht als solcher – Homo- wie Heterosexualität, einfach formuliert, seien nur differente Ausprägungen ein und derselben Sache: Morgenthaler nannte sie „Plomben“. Irgendeine seelische „Karies“ hätten alle Menschen; die einen füllten diese schmerzenden Stellen mit einer Plombe namens Hetero-, die anderen mit einer namens Homosexualität.

Ohne auf dieses theoretische Bündel einzugehen, sprach Sigusch von einer Zeit der „Neosexualitäten“ – es gebe kaum noch ein gelebtes Verständnis von dem, was normal, was gesund, was schicklich sei. Im Gegenteil tue jeder und jede, was sie wollen. Die Moral sei nicht verschwunden, habe aber ihre Kraft eingebüßt. Überall fänden sich Menschen mit gleichen sexuellen Interessen – Fetischen, Vorlieben, Praxen. Und, ganz der alte Kulturpessimist: Eine Industrie habe sich dieser Menschen quasi bemächtigt, um sie zu bedienen. Dass Geschäftsbranchen nur gedeihen können, wenn sie auf eine Nachfrage reagieren können, dafür blieb er, typisch für seinen Blick auf das, was ihm böse erscheint, nämlich das Kommerzielle, blind.

Könnte es nicht vielmehr ein Fortschritt sein, dass, zumindest in der westlichen Welt, Menschen ihre sexuellen Fantasien und Obsessionen ausagieren können? Und zwar erstens, ohne staatliche Nachstellungen befürchten zu müssen, zweitens, vielleicht inzwischen wichtiger, auf einen Markt vertrauen zu können, der ihnen das sexuelle Stimulationsmaterial zur Verfügung stellt? Sigusch aber redete, das war erwähnt, zum Trost. Denn auch Morgenthaler und all jene, die in seinem Psychoanalytischen Seminar in Zürich in den Sechzigern, Siebzigern gelernt hatten, glaubten an ein unverfälscht Sexuelles. Wie es schien, nimmt man den Applaus für Sigusch für wahr: Das nehmen sie noch immer an.

Selbstverständlich war Morgenthaler ein Mann seiner Zeit – ein mutiger obendrein. Er sagte, vergröbert gesprochen, es gebe eine Diktatur der Sexualität und andererseits das Sexuelle. Ein Unterschied, der sich in den je einzelnen Seelen austobt. Hier die Normen des Heterosexuellen, dort das Amorphe, das Ungebärdige, Rohe, Ungezügelte – kurz: das Subversive. Dieser Psychoanalytiker begründete aus freudianischer Sicht, dass es ein antibürgerliches Reservoir an besserem Leben, an gelungenerer Sexualität geben müsse. Dass er damit an den lebensreformerischen Furor seiner Generationsgenossen anknüpfen konnte, ist leicht erkennbar: Auch Volkmar Sigusch, auch Günter Amendt (nachzufühlen in seinem Buch „Sexfront“) glaubte an die transzendente Kraft der kommerziell oder religiös nicht regulierten Lust. Allesamt Kinder, klare Sache, des nicht minder um psychoanalytische Dissidenz ringenden Wilhelm Reich: sie alle überzeugt, dass in einem anderen Leben (Reich hätte gesagt: im Sozialismus) der Sex so orgiastisch sei wie einst im Paradies. Sehnsüchte von Kindern nach dem Schlaraffenland?

In Wirklichkeit bekamen sie ja alle Recht, wenn auch nicht in ihren politischen Absichten. Was nun genau Sexualität, gelungen oder nicht, ist, weiß wie eh und je niemand klinisch destilliert zu definieren – das Sexuelle hingegen ist so präsent wie nie. Trotzdem haben sich etliche der Morgenthaler’schen Thesen in den alternativen Szenen des Westens populär halten können. Dass der Sex des weißen Mannes irgendwie verklemmter ist; dass das Sexuelle in der Dritten Welt authentischer gelebt werde: Die Figur des edlen Wilden ist freilich bis in die letzte Evangelische Akademie eine inzwischen angesehene und verehrte – trotzdem eine, die kaum misslicher fantasiert wird.

Und weil das so ist, war dieser Kongress in Zürich auch einer der Kränkungen, die verdaut werden müssen, überdies einer der Trauer um einen Vater, der seit zwanzig Jahren tot ist und die Seinen mit Rätseln zurückließ.

Denn die Kränkung besteht ja hauptsächlich darin, dass die Zeit nicht über das Psychoanalytische hinweggegangen ist, sondern dass man ihr nicht mehr blank glaubt, mehr noch: glauben muss. Reimut Reiche, in Deutschland neben Martin Dannecker der wichtigste Interpret der „Plombentheorie“ und Gender-Theorie-Kritiker, wies in seinem Hauptvortrag über Sexualität darauf hin, dass, recht verstanden, Homosexuelle nicht mehr in solch feindseligen Umwelten leben. Nicht wie früher, zu Morgenthalers Zeiten. Wer sich auf der Couch nicht ernst genommen fühle, gehe von ihr weg – wissend, dass das Draußen kaum mehr als Diskriminierungen, selten Repressionen bereithält. Trauer aber auch um eine und in einer Zeit, in der die These des aufgeladenen, ja zu befreienden Sexuellen keine Resonanz mehr hat: Jeder und jede nach ihrem Geschmack.

Zugleich war es ein Abschied vom Vater Morgenthaler. Plötzlich hört man, in den Werkbefragungen auf dem Kongress und vor allem von den Frauen, Anekdotisches, das ihn streng, patzig und absent zeigt. Geschichten der Abweisung – und zugleich der Favorisierung junger Männer, die im privat-homosexuellen Leben des Fritz Morgenthaler größere Aufmerksamkeit erhielten als dessen Frau.

War es ein Zufall, dass in der Galerie, in der seine Bilder gezeigt werden, besonders viele Kongressteilnehmer standen, wo das Aquarell über das New York des Jahres 1972 auftaucht? Eine Stadt, urban wie keine andere, wunderbar entfremdet und zugleich entfremdend, fern des schicklichen Europa und eine Sünde voll Verführungen und Lockungen? War es das, was Morgenthaler ersehnte – eine Subversion in eigener Sache, fern der Konventionen, frei, aber auch lustvoll eingesperrt in den Drahtverhau der Verbote, die vielleicht gerade im protestantischen Zürich so wahrhaft zu spüren waren? Fritz Morgenthaler – a psycho rebel with a private cause?

Unter orthodoxen Analytikern gilt er ohnehin nicht besonders viel; er hat sich um Theoretisches, um Metapsychologie nie sehr geschert. Ein konsistentes Werk, niemand widersprach, hat er nur insofern hinterlassen, als man seine Perspektive auf das Nichtheterosexuelle für gewichtig hält.

Schön, dass gerade viele Frauen, gleich welchen Alters, auf dieser Tagung gegen die Dominanz des Männlichen protestierten. Sagte eine Moderatorin auf dem Schlussplenum, verhandelnd, was zum Thema jener Tage noch anzufügen wäre: „Gibt es noch irgendwelche Mordmeldungen?“ Das Auditorium, ob dieses hübsch-horriblen Versprechers, lachte. Souverän.

Nein, man wollte lieber das Durchdachte, das, was diese drei Tage intensiver Reflexion über einen gemeinsamen Lehr- und Lernvater gebracht hatten, sacken lassen. Wobei ein feines analytisches Einsprengsel dringend erwähnt werden muss. Volkmar Sigusch, irgendwie resigniert konstatierend, dass sich nun gar die Industrien der „Neosexualitäten“ bemächtigt hätten, kam auf eine Form der Transzendenz zu sprechen, die gerade unter seinen Altersgenossen eher skeptisch verhandelt wurde: die Liebe.

Das war schon bei dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu die Überraschung seiner letzten Lebensjahre – dass er plötzlich die Liebe für die einzige Kraft, die Frieden zwischen den Geschlechtern stiften könne, zu begreifen begann. So nun auch Volkmar Sigusch. Die Liebe, erwähnte er, sei der einzige Gemütszustand, der nicht käuflich sei und nicht, um ihn zu paraphrasieren, auf dem Strich und in einem Pornokino erworben werden könne.

Das also ist das Vermächtnis dieser Generation, ihr Erbe: Love fits! Stoff, aus dem die Träume sind. Was bleibt, ist das Leiden an dem, was einst als unnormal galt und was Aussöhnung braucht.

JAN FEDDERSEN, 47, ist taz.mag-Redakteur