Der schnelle Brüter ist müde

SCHACH Unschlagbar schien der Inder Viswanathan Anand im Schnellschach zu sein. Ein 18-jähriger Russe namens Ian Nepomniachtchi stürzt den Topspieler vom Sockel

Der verhaltene Applaus ist ein Signal. Weltmeister Viswanathan Anand blickt in der Mainzer Rheingoldhalle kurz hoch auf die überdimensionale Leinwand. Der Inder sieht, dass am Nebenbrett ein Remis vereinbart wurde. Der Kopf senkt sich wieder und Anands Rechte spricht Bände: Seine Finger fahren aufgeregt über den Mund. An der Stellung gegen Arkadij Naiditsch liegt’s nicht. Die hat der 39-Jährige unter Kontrolle, an ihr kann sich der „Tiger von Madras“ jetzt bis zum Unentschieden festbeißen, um den deprimierenden Gedanken zu vertreiben, dass soeben eine Ära zu Ende gegangen ist, seine Ära als unangefochtener Schnellschach-König.

Elfmal hat der Weltranglistenzweite die Chess Classic gewonnen. Neunmal in Serie wurde er in der Disziplin mit weniger als einer halben Stunde Bedenkzeit pro Partie Weltmeister. Seit dem Umzug nach Mainz 2001 hatte immer nur Anand triumphiert. Diesmal schien ein Endspiel zwischen ihm und dem Weltranglistenvierten Lewon Aronjan vorprogrammiert. „Ich hatte mich aufs kleine Finale eingestellt“, bekennt Ian Nepomniachtchi noch am Samstagabend nach vollbrachter Sensation. Der 18-Jährige aus Russland rettete sich mit dem Remis gegen den ungeschlagenen Aronjan über die Zielgerade. Der in Berlin lebende Armenier beherrschte Vor- wie Rückrunde, auch wenn ihm beim zweiten Sieg über Naiditsch in haarsträubender Zeitnot zahllose Patzer unterliefen. Mit 4,5:1,5 Punkten lag Aronjan deutlich vor „Nepo“ (3,5:2,5) und noch viel weiter vor Anand (2,5:3,5) sowie Naiditsch (1,5:4,5) – die deutsche Nummer eins aus Dortmund hatte einen rabenschwarzen ersten Tag erwischt und drei Schlappen kassiert.

Sebastian Siebrecht, Großmeister und Kommentator bei den Chess Classic Mainz (CCM), schmeichelt sagte: „Anand war einfach nicht in Form.“ Der Inder blieb erstmals in seiner Domäne zahnlos und spielte so schlecht wie nie. „Ich erlebte schon ein, zwei Desaster bei Schnellschach-Turnieren in Monaco“, bestätigt Anand, „da war zwar mein Spiel schlecht, aber mein Endergebnis noch positiv.“ In der Rheingoldhalle blieb dem 39-Jährigen selbst ein ausgeglichenes Resultat versagt. Beim Schwanengesang in der vorletzten Runde gegen Nepomniachtchi ließ Anand den Russen trotz zweier Mehrbauern ins Unentschieden entwischen. „Ich habe alles versucht und bekam meine Chancen, übersah aber zu viel. Wenn du schlecht spielst, wirst du eben bestraft!“, konstatiert der entthronte Schnellschach-Champion ohne Pathos und ergänzte: „Es stehen die zwei Leute im Finale, die es verdient haben.“

Auch wenn Außenseiter Nepo mit seinem „Ergebnis sehr zufrieden“ war, will er das so mit Blick auf die düpierten Gegner in der Weltspitze nicht stehen lassen. Mehrfach betont der Weltranglisten-111., die Überraschung sei nur durch „viel Glück gegen Anand und in der ersten Partie gegen Naiditsch“ zu Stande gekommen. Die Schnellschach-Ära des „schnellen Brüters“ aus Indien bleibt nach der einmaligen Serie von neun Siegen bei Weltmeisterschaften unvergessen, auch wenn die freie Namensübersetzung seines Bezwingers, Nepomniachtchi, anderes verheißt: „ohne Erinnerung“.

HARTMUT METZ