Zufallsbegegnung auf dem Lucia Weihnachtsmarkt
: Glühwein und Grönemeyer

Prenzlauer-Berg, zweiter Advent, kurz nach halb sieben. Das Karussell auf dem Lucia Weihnachtsmarkt steht still, Kameraleute haben sich in Stellung gebracht und einige Weih­nachts­markt­be­su­che­r:in­nen ihre Smartphones rausgeholt. Sie warten, ohne zu wissen, worauf. Eine, zwei, drei Minuten. Dann schwillt er an, der Chorgesang, und allen wird klar: Sie sind in einem Traum gelandet, und zwar in einem von Herbert Grönemeyer.

„Nebel verfängt im Laternenlicht, ein Winternachtstraum, der auf der Stelle tritt“, singt der Überraschungsgast. An Ort und Stelle bleiben die Zu­hö­re­r:in­nen auch, manche schmunzeln darüber, Teil eines Auftritts zu sein, der inmitten des Weihnachtsmarktgetümmels solche Ernsthaftigkeit beansprucht. Schließlich ist das hier keine schnelle Nummer, sondern eine Ballade, zu der bei einem Konzert alle rasch die Feuerzeuge rausholen würden. Nur darauf war hier niemand vorbereitet, keiner hat teure Tickets erworben, und keiner ist Schlange gestanden.

Das Gesangserlebnis Herbert Grönemeyer gibt’s an diesem Sonntag gratis und ungefragt. Es ist so eindringlich, dass keiner dringend wegmöchte. Sogar der Mann, der zwischendurch „Buh“ ruft, bleibt bis zum Ende. „Digga, ikonisch“, raunt eine Teenagerin, als Grönemeyer sein Stimmvolumen bis zum Geht-nicht-mehr auf- und in das „Aaaaaaaah“ des Engelschors bläst. Und während die Piano-Melodie aus den Lautsprechern perlt, stellt sich plötzlich ein sonderbares Ortsgefühl ein.

Am Kreuzpunkt zwischen Karussell und Kasnudelstand ist das Publikum plötzlich „im kalten Berlin“ gelandet, und „vielleicht“, endet Grönemeyer, „sind wir morgen längst nicht mehr hier“. Ob er damit auf die Sterblichkeit oder auf die Bedrohungslage durch Klimakrise und Rechtsruck anspielt – gegen beides setzt er sich ein –, verrät er nicht. Denn er hält am Ende des Songs keine Rede, sondern liefert ein Bekenntnis: das „B“ in Herbert stünde nicht nur für „Bobo“, sondern auch für „Berlin“, sagt er und stimmt eine Zugabe an.

Eine Publikumsumfrage ergibt: Kerstin, die auf über zwanzig Konzerten und laut ihrem Mann zwischendurch zu Tränen gerührt war, findet ihn nicht Bobo-mäßig, sondern „bodenständig“, schließlich habe er sich einfach mal so unter die Menge gemischt. Jonas und Micha wundern sich, dass Grönemeyer in Berlin und nicht in Bochum aufgetreten ist (die Stadt, nach der sein erstes Hitalbum benannt ist). Und eine Gruppe Teenies, die ein Autogramm ergattert hat und ihn bis dato nicht kannte, verspricht: „Wir werden krasse Fans“.

In einer Woche wird das Event zu einem Video und einer gelungenen PR-Aktion für den Single-Release von „Kaltes Berlin“ (prod. Lucry & Suena). An diesem Sonntagabend ist der Auftritt aber erst mal eins: Antithese, das „Kalte Berlin“ tritt immerhin gegen heißen Glühwein an. Trotzdem wirkt der Auftritt versöhnlich, spätestens als Grönemeyer im Refrain das lyrische Ich gegen ein „Wir“ austauscht. Ein Wir, das in eine Zukunft schaut, in der es „unser Berlin“ vielleicht nicht mehr geben werde. Grönemeyer versucht, einen kollektiven Moment aus etwas zu stiften, das er als gemeinsamen Nenner ausmacht: Zukunftsangst. Dass die meisten den Auftritt nicht als Stimmungskiller, sondern als schön empfinden, das ist wohl seine große Kunst. Lara Ritter