Jenseits des Erzählens

Bilder, die keine Abbilder sein wollen: Das Festival Fracto zeigt von heute an im Acud experimentelle Filme. Im Fokus steht die Regisseurin Milena Gierke

Hier haben die Hände Ohren: Szene aus „In Littleness“ von Cherlyn Hsing-Hsin Liu Foto: Fracto

Von Fabian Tietke

Vulkangestein, Sand, karge Landschaften unter der Sonne und auf dem Meeresboden. In Inselbildern von Land und unter Wasser begeben sich die spanischen Filmemacher_innen Helena Girón und Samuel M. Delgado in ihrem Kurzfilm „Bloom“ auf die Suche nach der mythenumwobenen Insel San Borondón, die in früheren Jahrhunderten Ziel von Expeditionen wurde. „Bloom“ ist Teil des Kurzfilmprogramms „Study of an Island“ (Untersuchung einer Insel), mit dem heute im Berliner Kunsthaus Acud die siebte Ausgabe von „Fracto Experimental Film Encounter“ beginnt. Das Festival präsentiert 19 Filme in vier Kurzfilmprogrammen, ergänzt um ein Fokusprogramm und einen Workshop mit der Filmemacherin Milena Gierke.

Zu Rock-’n’-Roll-Rhythmen flackern Bilder in einem vierteiligen Splitscreen. Links zwei Bilder einer Spielfigur übereinander. Auf der Tonspur zählt ein Fernsehreporter den Countdown zum Start von Apollo 11 im Sommer 1969 herunter, für einen kurzen Moment vereinigen sich die Bildfelder des Splitscreens in Cherlyn Hsing-Hsin Lius „In Littleness“ zu einem großen Bild des Starts der Rakete. Dann teilen sich die Bilder wieder und links blitzt ein Halma-Feld auf. „In Littleness“ evoziert in einer Kombination aus Naturszenen, Spielzeug und Alltagsgegenständen spielerisch einen visuellen Assoziationsraum aus einer Kindheit in vergangenen Jahrzehnten. Hsing-Hsin Lius Film ist ein spielerischer Trip durch Momente nostalgischer Utopie.

Lewis Klahrs „Monogram“ präsentiert sich als ein scheinbar rätselhafter Film. Er kombiniert in Stop-Motion-Animation alte Stadtpläne von New York und Retro-Interieurs, Figuren aus alten Zeitschriften und Schriftzüge zu einer Struktur, in der erkennbar wird, dass es eine zugrunde liegende Narration gibt, die jedoch im Film selbst unentschlüsselbar bleibt. Der Katalogtext löst das Rätsel: Der Film basiert auf einem Gedicht, das der Filmwissenschaftler Tom Gunnings in Reaktion auf William Castles Film Noir „When Strangers Marry“ von 1944 geschrieben hat und das der Regisseur mit der Handlung von Castles Film kurzschließt. Beide Filme sind Teil des zweiten Kurzfilmprogramms „Cartography of Littleness“ (Kartografie des Kleinseins), dem ersten Programm des Freitagabends.

Es lohnt sich trotz des dann späteren Abends noch zu bleiben. Im dritten Programm „Liminal Spaces“ (deutsch in etwa: Schwellenräume) läuft Siegfried A. Fruhaufs „Cave Paintings“, einer der absoluten Höhepunkte des bisherigen Filmjahres. Fruhauf montiert und schichtet Standbilder zu einem Sog, der in einen Höhlenraum hineinführt, auf der Tonspur pulsiert Klopfen, später treten rieselnde Klänge hinzu. Während der Blick trotz der flachen Leinwand in die Höhe abzutauchen scheint, blitzen zwischen den Steinen Pflanzenteile auf. Im Dunkel der Höhle flackern Schatten, Farbflächen zucken über die Leinwand. Fruhauf kombiniert Abbilder der Wirklichkeit zu Filmbildern, die eine Räumlichkeit eröffnen, die sich von diesem Abbildverhältnis entfernt, ohne es ganz aufzugeben. Er kreiert filmische Räume, durch deren Tiefenschichten hindurch wir schließlich bis zum Trägermaterial des Films selbst gelangen, in dessen Schichten Fruhauf wiederum Formen hineingeritzt hat.

Das Fokusprogramm des Festivals widmet sich in diesem Jahr der Berliner Experimentalfilmerin Milena Gierke. Zwei Tage lang zeigt Fracto ihr Werk komplett in analogen Filmprojektionen. Im Zentrum des Bildes ist die Säule zwischen zwei Fenstern eines IC-Wagens, die Fenster jeweils halb geöffnet. Die Landschaft zieht in „Entgegen“ von 1999 ausgehend von der Säule in verschiedene Richtungen vorüber: im linken Fenster von rechts nach links, im rechten andersherum.

Fracto holt ein experimentelles Filmschaffen nach Berlin, das im Kinoalltag oft unsichtbar bleibt

Ein Balkongitter wie geschwungene Scheren, davor hängt eine Schicht Luftpolsterfolie, die im Wind weht. Der Blick durch Gitter und Folie geht in „Membran“ von 2000 auf die Straße, Radfahrer_innen und Fußgänger_innen ziehen vorüber. Eine neue Kameraposition offenbart Autoverkehr, der nun freie Blick über die Folie hinweg teilt das Bild farblich und in der Klarheit des Blicks auf das Dahinterliegende. Gierke studierte an der Städelschule in Frankfurt am Main bei Peter Kubelka und Ken Jacobs, später an der Cooper Union in New York bei Robert Breer, Hans Haacke und James Hoberman. In diesem Kontext ist auch der abendfüllende Tagebuchfilm „New York Film Diary“ entstanden, den die Filmemacherin als „sehr persönliche, stumme Bestandsaufnahme von dem, was ich gesehen habe und was meine Aufmerksamkeit auf sich zog“ beschrieben hat.

Auch im siebten Jahrgang holt Fracto ein experimentelles Filmschaffen nach Berlin, das im übrigen Kinoalltag bedauerlich oft unsichtbar bleibt. Die Filme des Festivals stellen ein weit verbreitetes Wahrnehmungsparadigma von Film, in dem Bilder allzu oft zur Illustration einer Narration degradiert werden, nachhaltig infrage.

Fracto, 23.–26. 11., Acud Kino, fractofilm.com