Einsatz der Arbeitsbiene

Ralf Rangnick will das kleine Österreich zu einer großen Fußballnation formen. Dafür darf er tun, was er so gerne tut: sich überall einmischen

Der Rächer der Unterschätzten: RR Foto: ap

Aus Wien Gerald Gossmann

Er war kurz beim DFB im Gespräch. Dann aber wurde stattdessen der nette Hansi Flick Bundestrainer – und Ralf Rangnick unterschrieb beim Österreichischen Fußballbund (ÖFB). Dort darf er tun, was ihm der DFB wohl nie erlaubt hätte: den gesamten Fußballbetrieb durchleuchten, in jede Schublade schauen – und mit dem Finger auf alles zeigen, das nicht seinen Qualitätskriterien entspricht. Und da gibt es viel: etwa den Trainingsplatz des Nationalteams. Er habe seinen „Augen nicht getraut“, erklärte Rangnick zuletzt. Im Juni wäre dieser noch ein Golfplatz gewesen – und nun: „eine Wiese“.

Bei Rangnicks Debüt im Juni 2022 fiel im altehrwürdigen Ernst Happel-Stadion erst das Licht aus, dann tauchte ein 20 Zentimeter tiefes Loch im Rasen auf. Rangnick selbst suchte nach neuen Spielstätten. Er änderte den Speiseplan, die Frühstückszeiten, die Stadionmusik. Gerne hätte er Lichteffekte vor Spielen durchgesetzt: das Stadion abgedunkelt und erst mit Anpfiff die Flutlichter hochgefahren. Davon wurde ihm verbandsintern abgeraten: Im alten Happel-Stadion könnten die Lichter dann nicht mehr angehen, hieß es.

Kurzum: Rangnick ist beim ÖFB genau richtig. Er, der brutale Restaurator des Fußballgeschäfts – den Unordnung nicht abschreckt, so lange er im Alleingang aufräumen darf.

Der ÖFB ist ein Verband voller Probleme. Bei Rangnicks Antritt lagen die Funktionäre im Clinch – und: Das Nationalteam war ein Ladenhüter geworden. Der Fußballstil von Rangnicks Vorgänger Franco Foda schläferte das Publikum ein. Die Stadien blieben halbleer. Dabei hat der ÖFB ein Ass im Ärmel: eine tolle Mannschaft. Der Teamkader ist fast 300 Millionen Euro wert. Zwei Dutzend Österreicher spielen in Weltligen. David Alaba bei Real Madrid, Marcel Sabitzer in Dortmund, Marko Arnautovic bei Inter Mailand, Christoph Baumgartner in Leipzig, Konrad Laimer in München. Viele wurden bei RB Salzburg ausgebildet und taugen zu mutigem Angriffs-Pressing. Also zu jenem Spielstil, den Rangnick geprägt hat. Doch Vorgänger Foda nahm seine Kicker an die Leine. Diese protestierten auf dem Feld, spielten zuweilen mutiger als ihrem Trainer lieb war (etwa bei der EM 2021, als der Achtelfinaleinzug gelang) – doch Foda konnte nicht aus seiner Haut und mahnte an der Seitenlinie wild fuchtelnd mehr Vorsicht an. Am Ende folgte die entnervte Mannschaft wie zum Trotz dem Angsthasenfußball. Die WM-Qualifikation 2022 beendete Österreich hinter Dänemark, Schottland und Israel auf dem vierten Platz. In der Weltrangliste stürzte man auf den 34. Rang ab. Der ÖFB musste reagieren.

Als die Österreicher bei Rangnick halbherzig anfragten, waren sie erstaunt: Der Kapazunder (Österr.: Koryphäe), bei Manchester United beschäftigt, musste gar nicht überredet werden. „Die Aussicht mit dieser Mannschaft hat ihn gepackt. Er denkt, dass mit dieser Truppe Rangnick-Fußball möglich ist“, erklärte ein Vertrauter. „Ich würde den österreichischen Fußball gerne dorthin bringen, wo er hingehört“, betonte Rangnick. Er trägt in Österreich bevorzugt Schwarz. Schwarze Hose, schwarze Blazer, schwarze Hemden. Wie ein Magier sagt er: „Das Unmögliche möglich machen, das hat mich immer gereizt.“

Gleich das erste Spiel gewann Österreich 3:0 in Kroatien. Davor war viereinhalb Jahre lang kein Sieg gegen einen höher klassierten Gegner gelungen. Die Spieler sind froh, dass sie nun einer fördert und nicht bremst. Man habe „die Schnauze voll von einer gewissen Art, Fußball zu spielen, wie wir es immer wieder in den Jahren zuvor getan hatten“, erklärte Kapitän Alaba. Und Rangnick sagt: „Diese Spieler nicht von der Leine zu lassen, macht ja keinen Sinn. Wenn du denen sagst, wir bleiben hinten und warten, ob uns der Gegner freiwillig den Ball gibt, nimmst du ihnen jede Stärke.“

Nun will Österreich überall angreifen und gewinnen. Selbst bei Weltklasseteams. So besiegte man Italien. Und Schweden. Spielte Remis gegen Belgien und Frankreich. Nach dem 1:1 gegen die Franzosen im Juni 2022 tobte Rangnick dennoch im TV: „Ich bin überhaupt nicht zufrieden mit diesem Ergebnis“, hielt er fest. Derlei Getriebenheit ist man im etwas verschlafenen ÖFB nicht gewohnt. Die Funktionäre finden Gefallen an der deutschen Arbeitsbiene. Sie wittern, dass ihnen da jemand im Alleingang den Verband restaurieren könnte. Er solle ruhig „keinen Stein auf dem anderen“ belassen, erklärten sie. Und sprachen von einem Stufenplan: „Zuerst soll er sich um die Nationalmannschaft kümmern, dann um die Nachwuchsteams und dann um die Trainerausbildung“.

„Ich würde den österreichischen Fußball gerne dorthin bringen, wo er hingehört“

Ralf Rangnick

Rangnick genießt in Österreich einen hervorragenden Ruf. Dem Mann, der Salzburg zum Champions League-Dauergast und internationalen Transferkaiser geformt hat, traut man zu, das Sorgenkind ÖFB aufzumöbeln. Zuletzt hat er sich die Nachwuchsnationalteams vorgenommen – sie alle sollen Rangnick-Fußball spielen. Und weil ein bisschen Kontrolle nicht schadet, werden deren Trainings von Coaches aus seinem Stab überwacht.

Das erste Ziel wurde bereits erreicht: Österreich ist für die EM qualifiziert. Rangnicks nächstes Vorhaben: Bei der EM ordentlich „aufmischen“. In Österreich reagiert man auf derlei Ansagen noch ungläubig – doch der Reformer wischt die Bedenken beiseite. „Man kann sich immer einreden: Das schaffen wir sowieso nicht“, sagt er. „Aber warum soll das, was in Ländern wie der Schweiz, Belgien und Kroatien möglich ist, nicht auch in Österreich möglich sein?“ Eines hat Rangnick in Österreich schnell durchgesetzt: Er darf sich nicht nur überall einmischen. Er hat auch das letzte Wort.