Ausgehen
und rumstehen
von Bruma Calle
: Monte Veritá in der Pampa

Foto: privat

Um die stressige Autobahn zu vermeiden, nehme ich den Zug. Von Berlin bis nach Stavenhagen. Dann radle ich durch die bukolische Landschaft auf huckeligen Dorfstraßen. Gut sieben Kilometer sind es bis zum Gutshaus Scharpzow. Hinter dem Haus, das bis vor Kurzem eine Ruine war, verbirgt sich ein 3,5 Hektar großer, historischer Park. Zwischen alten Bäumen verstecken sie sich, die Glamping-Zelte.

„Glamping“, das ist eine Art des Zeltens entlang einer neu kodierten Sehnsucht nach Work-Life-Balance. Auf Annehmlichkeiten einer Ferienwohnung wird bei diesem „Glamourous Camping“ nicht verzichtet, und trotzdem hat man die Vorteile, in der Natur zu seins. „Glamping“ am Gutshaus Scharpzow sei jedoch, so erklärt Künstler Albrecht Pischel mir es, „als ein Gesamtkunstwerk gedacht“. Und damit meint er nicht nur die Zelte, er meint auch die Baustelle, die sich um die Zelte herum erstreckt.

Denn das Gutshaus ist eine 1896 errichtete, über die Jahrzehnte mehrmals umgebaute, zwanzig Jahre leer gestanden habende Anlage, deren gut 1.800 Quadratmeter renovierungsbedürftige Fläche unter Denkmalschutz stehen. Seit 2017 sanieren und bewohnen die Stylistin Nina Hollensteiner und der Künstler Albrecht Pischel (jetzt auch Hollensteiner) das Gutshaus wieder.

Und jetzt ist es ein Ort, der wirklich nur von Künstlern gemacht sein kann. Jeder Winkel dieser Pommerschen Pampa ist mit Bedacht ausgestattet. Ich muss hier an die traumhaften Orte der Kunstgeschichte denken. An den Monte Veritá im Tessin etwa, wo Mary Wigman ihren holistischen Ausdruckstanz entwickelte. Oder an die asketische Welt der Künstlerin Andrea Zittel, genannt “A-Z West“ am Rande der Joshua-Tree-Wüste in Kalifornien.

Immer bei Vollmond eröffnen Hollensteiner und Pischel die sogenannte Vollmondbar, wo Pischel Negronis, Dirty Martinis und Campari Spritz anbietet. Hollensteiner erzählt mir dort von Künstlereditionen, die sie ausstellen, etwa die Spiegel mit Gedichten des Künstlers Karl Holmqvist, die der Designer Riccardo Paratore für seine Serie von “Specchi Magici“ (Zauberspiegeln) produziert.

Die Magie wirkt auch ohne Spiegel. Sobald ich nachts den Reißverschluss des Zeltes zumache, und das Holz im kleinen Kamin anfängt zu rauschen, transportiert mich die Umgebung ins 19. Jahrhundert. Ich denke dabei an Zittels Verbindung zu den damaligen Sozialutopisten und „materiellen Feministinnen“, die eine Befreiung durch die Umgestaltung der häuslichen Sphäre suchten.

Nur ist Zittels A-Z West ein Gelände mit Pavillons, es gibt kein Gutshaus, keine Zelte, aber ein “Wagon Station Encampment“, also zwölf gewölbte, mit Aluminium verkleidete Einheiten. Die sogenannten „Experimental Living Cabins“ sind für Einzelbesucher gedacht, die zwischen zwei Tagen und drei Wochen bleiben können, und sind so niedrig und so weit entfernt von allem, dass man leicht vergisst, dass sie überhaupt existieren.

In Scharpzow können Menschen die Glamping-Zelte mieten, solange sie wollen. Denn was heute noch wie ein sehr erfinderisches Projekt von Denkmalbesitzern aussieht, versucht Formen des kommunalen Lebens und Arbeiten zu schaffen, vielleicht ähnlich wie in Barbizon, dem französischen Künstlerdorf, in dem sich die Impressionisten trafen.

„Materielle Feministinnen“ suchten Befreiung durch die Umgestaltung der häuslichen Sphäre

Künstlerkommunen wurden als autarke Wohnkolonien gegründet. Heute sind temporäre Künstlerresidencies über die ganze Welt verstreut. Was das Gutshaus und den Glamping-Park für mich aber ausmacht, ist diese besondere Ausstattung der Räume. Sie lässt einen gedanklich in die vorherigen Jahrhunderte treiben, weit weg von der durchgentrifizierten Stadt. Und gleichzeitig so offen, dass auch viele Leute aus den Nachbardörfer kommen. Ist das etwa schon eine Utopie?