Uli Hannemann
Liebling der Massen
: Weder Fisch noch Fleisch

Meine Nichte ist in der Stadt. Wir verabreden uns zu dritt, damit ich auch mal ihren Freund kennenlerne. Den Link fürs vietnamesische Lokal habe ich per Whatsapp geschickt. Seht her, soll das heißen, ich kann das schon. Ich bin The Digital Uncle, ein rüstiger Best-Ager auf der Höhe der Zeit, ein flexibles Bindeglied zwischen Vorzeit und Moderne.

Sie leben vegan und arbeiten für verschiedene Geflüchtetenprojekte. Für mich ist das super­interessant, weil ich sonst naturgemäß nur alte Asis kenne. In die ungewohnte Situation muss ich mich allerdings erst reinfuchsen, natürlich mit Augenmaß. Also ordere ich ein Gericht mit Huhn, denn man kann es auch übertreiben; eine Bestellung mit Tofu oder Seitan wäre zu unrealistisch. Sie würden mich durchschauen und für meinen verlogenen Opportunismus verachten, und das völlig zu Recht. Außerdem habe ich Bock auf Hühnchen, obwohl ich kurz über Rind nachgedacht habe.

Aber selbstverständlich will ich bei ihnen einen guten Eindruck machen. Das fällt mir bestimmt nicht schwer. Ich tue ja immer sehr viel Gutes, ich kann das nur nicht so ausdrücken. Und so rede ich, wie mir der graue Schnabel gewachsen ist, über „Flüchtlingsströme“, doch gleich darauf erinnere ich mich vage, dass man das zurzeit wohl eher nicht so sagt. Und sogar die Gründe bekomme ich noch halbwegs zusammen.

Die oft verniedlichende Nachsilbe „ling“ mache die Betroffenen klein und zu Opfern: So ist der Schmetterling ein Tier, das sich nicht selber helfen kann. Und „Ströme“ gilt, ähnlich wie der Begriff „Krise“, glaube ich – bitte kreuzigt oder verbessert mich anderweitig, falls ich das falsch wiedergebe –, deshalb als inkorrekt, weil es die flüchtenden Menschen verdinglicht, und von den Ursachen ablenkt, indem es eine Unvermeidlichkeit wie bei einer Plage oder Naturkatastrophe vortäuscht. Was dann wiederum negative Reaktionen in den Zielländern legitimiert.

Einiges daran kann ich theo­retisch nachvollziehen, auch wenn ich zuweilen denke, man könnte ja statt der aufwendigen Wortakrobatik auch Geld spenden oder anderweitig helfen. Aber gut, ich hab sowieso keine Ahnung, wahrscheinlich wäre das auch wieder nur so ein billiger Ablasshandel derer, die sich nicht um sprachliche Sensibilität bemühen möchten. Und die Sprache bestimmt nun mal das Denken, das Denken das Handeln, das Handeln das Sein, und das Sein einen Job an der Uni. Früher mussten die Kinder sprechen lernen, heute sind es die Alten.

Unbedacht frage ich jetzt den jungen Mann, ob seine weiße Puscheljacke aus Schafsfell sei, weil ich offenbar immer noch genauso wenig schnalle, was „vegan“ überhaupt bedeutet, wie so ein fränkischer Landgastwirt, der seine Kartoffelsuppe als vegan anpreist, weil da „kein Fleisch“ drin ist, sondern nur Speck und allenfalls ein paar Wurststücke. Nicht Bildung oder Herkunft scheint der Hauptfaktor für diese Form von Ignoranz zu sein, sondern das Alter.

Ich bin quasi der notorische Nazi-Onkel, wie er in Feuilleton-Artikeln über klassische Fami­lienfestkonstellationen gern als Pappkamerad dient, an dem sich die Jugend in Ambiguitätstoleranz oder konstruktiver Streitkultur üben kann – die Feier soll ja auch nicht eskalieren, schließlich ist die Oma schon so krank.

Doch keiner schreit mich an, schlägt mich oder verbessert mich auch nur. An meiner gerührten Dankbarkeit merke ich, wie groß meine Paranoia längst sein muss. Im Internet wird man ja für ungeschicktes Wording immer voll zur Sau gemacht. Aber zum Glück ist das hier nicht das Internet, sondern Real Life, auch wenn das sicher bald dasselbe sein wird.