Bei allen verbreitet

Expertise zu antisemitischen Einstellungen unter Mus­li­m*in­nen und Menschen mit Migrationshintergrund vorgestellt

Von Jonas Wahmkow

Die antisemitischen Äußerungen, die Teil­neh­me­r:in­nen einer propalästinensischen Demonstration in Neukölln am Osterwochenende gerufen hatten, hat die Debatte über Judenfeindlichkeit innerhalb von migrantischen und muslimischen Bevölkerungsteilen neu entflammt. Doch wie groß ist das Problem wirklich? Der Mediendienst Integration stellte am Mittwoch eine Auswertung der aktuellen Studienlage vor und mahnt, nicht pauschal von „muslimischen Antisemitismus“ zu reden.

„In der gesamten Gesellschaft ist Antisemitismus weit verbreitet“, stellt Autorin Sina Arnold bei der Vorstellung der Studie klar. Dennoch gebe es bei Mus­li­m:in­nen und Menschen mit Migrationshintergrund Unterschiede. Demnach komme es darauf an, welche Ausprägung von Antisemitismus untersucht wird.

Gerade klassischer Antisemitismus und israelbezogener Antisemitismus seien unter Mus­li­m:in­nen deutlich stärker verbreitet als unter Nicht-Muslim*innen. Bei Ersterem werden Juden:Jüdin­nen negative Eigenschaften zugeschrieben, bei Letzterem werden zum Beispiel allen Juden:Jüdin­nen für die Politik Israels verantwortlich gemacht. Sekundärer Antisemitismus, der sich vor allem in der Relativierung der NS-Verbrechen äußert, komme allerdings deutlich seltener bei Muslimen und Menschen mit Migrationshintergrund vor. Analysiert wurden vor allem quantitative Befragungen der letzten Jahre, bei denen nach Zustimmung zu antisemitischen Aussagen gefragt wurde, wie in etwa „Die Juden haben zu viel Einfluss in der Welt“.

Gründe für die Verbreitung von Judenfeindlichkeit sind laut der Expertise für den Mediendienst Integration vielfältig. Zum einen gäbe es in vielen arabischen Ländern wie Syrien eine weit verbreite antizionistische Tradition. Antisemitismus sei in vielen Ländern des Nahen Ostens Teil der staatlichen Propaganda. So bestehe ein deutlicher Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Herkunftsregion.

Die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen nehme aber ab, je länger Mi­gran­t:in­nen in Deutschland leben. Arnold führt dies darauf zurück, dass Mi­gran­t:in­nen soziale Normen Deutschlands erlernen und sensibilisiert würden.

Ausgrenzung könne das Bedürfnis nach der Identifikation mit einer „Eigengruppe“ stärken

Dass auch unter in Deutschland aufgewachsenen Jugendlichen judenfeindliche Einstellungen verbreitet sind, hat laut Arnold einen anderen Grund. Die Ausgrenzung, die Mi­gran­t:in­nen von der Mehrheitsgesellschaft erfahre, könne das Bedürfnis nach der Identifikation mit einer „Eigengruppe“ stärken. Damit gehe eine Abgrenzung zu einer vermeintlichen „Fremdgruppe“ der Juden:Jüdin­nen einher. Gerade bei Jugendlichen gäbe es eine „Überidentifikation mit Palästina“.

Weniger klar ist der Zusammenhang zwischen Religiosität und Judenfeindlichkeit. Dogmatische und fundamentalistische Strömungen seien klarer antisemitisch als säkulare. „Antisemitismus ist weniger ein Effekt der Religion als von autoritär-konservativen Einstellungen“, erklärt Arnold.

Angesichts der vielfältigen Ursachen können man nicht pauschal von einem „muslimischen“ Antisemitismus sprechen. Stattdessen helfe es zu differenzieren: „Man muss wissen, wo die ideologischen Quellen sind, dann kann man besser intervenieren“, sagt Arnold. In Bezug auf die Bildungsarbeit mit migrantischen Jugendlichen hieße das zum Beispiel, auch die eigenen Diskriminierungserfahrungen zu thematisieren.