Blackbox Gefangenenarbeit

BILLY-REGALE Ikea, Quelle und viele weitere Unternehmen sollen von Zwangsarbeit in der DDR profitiert haben. Doch ändern wird der momentane Aufschrei nichts: Zu lange wurde das Thema ignoriert

AUS BERLIN KAREN GRASS

Versuchte Republikflucht – wem das in der Deutschen Demokratischen Republik vorgeworfen wurde, der hatte ein Problem. Dieter Dombrowski, heute Generalsekretär der CDU Brandenburg, erhielt dafür vier Jahre Haft im DDR-Gefängnis Cottbus, aus der er 1975, nach einem Jahr, von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft wurde.

Die Praktika-Kameras, die Dombrowski nach eigenen Angaben während der Gefangenenarbeit für den Volkseigenen Betrieb Pentacon fertigte, habe er später in den Katalogen einiger westdeutscher Versandhäuser wie Quelle und Neckermann wiedergefunden.

Die Vorwürfe gegen diese und andere Großunternehmen, darunter der Möbelhersteller Ikea, sie hätten von billigen Haftzwangsarbeitern in DDR-Produktionsbetrieben profitiert, stehen seit dem Abschluss dieser Produktionsverträge in den 70er und 80er Jahren im Raum. Immer wieder beschuldigen ehemalige Häftlinge wie Dieter Dombrowski einzelne Unternehmen, oder Journalisten finden Fälle in Stasiunterlagen. Bislang ohne Konsequenzen.

Arbeitspflicht für Gefangene gibt es weltweit. Häftlinge im geschlossenen Vollzug in Deutschland bekommen nur 9 Prozent des Durchschnittseinkommens. Die Gefangenenarbeit der DDR entsprach Historikern zufolge jedoch keinem der Standards der Internationalen Arbeitsorganisation und ist somit generell als Zwangsarbeit einzuordnen.

Selbst gemachte Werkzeuge

Die Werkzeuge für die Kameragehäuse hätten die Gefangenen in Cottbus selbst gebaut, erzählt Dombrowski, aus alten Schraubenziehern und Feilen: „Arbeitsschutzbelehrungen, geschweige denn einen Beauftragten dafür, gab es selbstverständlich nicht.“ Bei Arbeitsverweigerung drohten Isolationshaft und kleinere Essensrationen.

Meist wurden die Häftlinge im schwerindustriellen Bereich eingesetzt. „Das waren Tätigkeiten, die der normalen Bevölkerung nicht mehr vermittelbar waren“, sagt Thomas Widera vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung der Technischen Universität Dresden. „Doch die DDR gab ihre Produktionsbedingungen gegenüber den Auftragnehmern im Westen nicht offen zu“, sagt er. – „Die Gefangenenarbeit war den Bundesregierungen bekannt“, entgegnet Dombrowski.

Experten zufolge gibt es trotz vieler Zeugenberichte keine systematische Forschung zur Verstrickung westlicher Konzerne in Zwangsarbeitssysteme. Es ist kaum nachzuweisen, dass Ikea und Co von den Arbeitsumständen wussten, unter denen Billy-Regale und Bettwäsche entstanden. „Die Unternehmen konnten die Einzelberichte der Betroffenen bisher mühelos vom Tisch wischen“, sagt Hildigund Neubert, Beauftragte für die Stasiunterlagen in Thüringen.

In der Behörde für die Stasiunterlagen (BStU), die das Thema Häftlingsarbeit noch vor wenigen Tagen skandalisierte, schaltet man jetzt einen Gang zurück. Sprecherin Dagmar Hovestädt sagt nur: „Man muss jetzt jeden Einzelfall prüfen, bevor man Anschuldigungen erhebt.“ Der Verkauf von Waren aus Häftlingsproduktion an den Westen sei bisher nicht bezifferbar, schon gar nicht nach einzelnen Betrieben.

In den Archiven der BStU finden sich Dokumente, die der Häftlingsproduktion einen Anteil an der industriellen Produktion der DDR von 0,2 bis 1 Prozent zuschreiben. Im Chemiekombinat Bitterfeld sollen Häftlinge 15 Prozent der Produktion erbracht haben. Es soll in der Ära Honecker kontinuierlich etwa 20.000 bis 30.000 Arbeitsplätze in Haftzwangsarbeit gegeben haben, darunter waren nach Schätzungen der BStU etwa ein Drittel politische Häftlinge.

„Es wäre die moralische Verpflichtung des Bundes, die nötigen Recherchen jetzt zum Beispiel über die BStU anzugehen, um den Profit des Westens und der BRD an diesem System zu beziffern“, sagt Neubert. Doch die Parteien haben noch keine Position zum Thema, auf Anfrage äußerte sich bisher nur Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD): „Nach derzeitiger Kenntnis scheinen die Vorgänge in der Tat gravierend zu sein. Genauere Untersuchungen müssen aufzeigen, was genau geschehen ist.“