Ajax: Und noch einmal alles von vorne

Beim niederländischen Rekordmeister, zu Gast in Liverpool, folgt auf jede gute Saison der Neubeginn. Für Europas Spitze ist das zu wenig

Auch hier ist die Rückennummer natürlich reiner Zufall. Ajax-Jubel beim Rangers-Spiel Foto: reuters

Aus Amsterdam Tobias Müller

Es zählt zu den beliebtesten musikalischen Gepflogenheiten in der Johan-Cruijff- Arena, dass dort regelmäßig das Lied „Three Little Birds“ ertönt. Ob aus den Lautsprechern oder von den Rängen, seit Jahren lieben es die Ajax-Fans. So sehr, dass das Dritt- oder „Ausweich“-Trikot, das nicht an Clubfarben gebundene Merchandising-Shirt, letztes Jahr die gemeinhin mit Reggae verbundenen Farben Rot, Gelb und Grün enthielt. Das „Bob-Marley-Shirt“ verkaufte sich, als gäbe es kein Morgen.

Um die Situation beim 36-maligen kampioen der Ehrendivision zu beschreiben, eignet sich freilich ein anderes Lied aus dem Repertoire des Meisters besser: „Exodus“. Denn zuverlässig muss man in Amsterdam nach jeder Saison, in der das Team international für Aufsehen sorgte, von dessen besten Kickern Abschied nehmen. „We know where we’re going, we know where we’re from“, heißt es bei Bob Marley. Auch die Spieler wissen nur zu gut, woher sie kommen und vor allem, wo sie hinwollen: zu den Fleischtöpfen großer Titel und Verträge in England, Spanien, Italien, Deutschland und Frankreich.

Aktuell haben Ajax verlassen: Noussair Mazraoui und Ryan Gravenberch (Bayern München), Sébastien Haller (Borussia Dortmund), Perr Schuurs (Torino), Nico Tagliafico (Olympique Lyon), Lisandro Martinez folgte Coach Erik ten Hag zu Manchester United, das kurz vor Ende der Transferperiode auch noch Antony ins Old Trafford lockte. Dem Team, das letzten Herbst in der Champions League die Sterne vom Himmel spielte und gar als einer der Favoriten auf den Titel galt, erging es wie seinen Vorgängern: ein halbes Jahr später existiert es nicht mehr.

Schon nach den erfolgreichen Auftritten in der Europa League (2017) und Champions League (2019) verließen Spieler wie Frenkie de Jong, Davinson Sánchez, Matthijs de Ligt, Bertrand Traoré, Justin Kluivert, Sergiño Dest, Donny van de Beek und Hakim Ziyech sowie Trainer Peter Bosz den Verein. Mehrfach in den letzten Jahren belegten Statistiken, dass so viele in der Ajax- Jugend ausgebildete Spieler in Europas höchsten Ligen am Start sind wie von keinem anderen Club.

Mit der Rolle als Ausbilder und Veredeler südamerikanischer oder skandinavischer Top-Talente gibt man sich freilich nicht zufrieden, zumal Direktor Edwin van der Sar die permanente Rückkehr seines Clubs in der europäischen Spitze als Ziel ausgibt. Die gerade abgeschlossene Transferperiode machte einmal mehr schmerzhaft deutlich, dass dieser Plan an strukturelle Grenzen stößt – etwa, als der brasilianische Flügel-Angreifer An­tony mit einem Trainingsstreik seinen Wechsel zu Manchester United forcierte, entgegen dem ausdrücklichen Wunsch des neuen Trainers Alfred Schreuder, den man in Deutschland von der Hoffenheimer Bank kennt.

Die Spieler wissen nur zu gut, woher sie kommen und wo sie hinwollen

Kurz vor Ende des Transfer- Fensters setzten auch Verteidiger Edson Álvarez und Mittelfeldmann Mohammed Kudus in der Hoffnung auf ein Engagement in der Premier League das Training aus – vergeblich zwar, doch die „Meuterei“ bei Ajax war zu Saisonbeginn ein ausführliches Thema in den Medien.

Dass das finanzielle Kräfteverhältnis im europäischen Fußball längerfristig zementiert ist, ist eine Erfahrung, die sich selbst in der Bundesliga immer wieder zeigt. Doch innerhalb dieser Konstellation gibt es Zwischenräume. Diese zu nutzen ist die einzige Strategie, die einem ambitionierten, der eigenen Reputation verpflichteten Verein wie Ajax bleibt. Bestes Beispiel: In diesem Sommer belegt man die europäische Spitzenposition bei Spielertransfers, sowohl was Einkommen als auch Saldo betrifft. Wichtiges Detail: Zugleich investierte man so viel Geld wie nie zuvor in neues Personal.

Dieser Kurs, eingeläutet 2018 mit den Premier-League-Rückkehrern Dušan Tadić und Daley Blind, setzt sich nun fort: So konnte man Oranje-Angreifer Steven Bergwijn von den Tottenham Hotspur ebenso verpflichten wie Verteidiger Calvin Bassey von den Glasgow Rangers. Ob der makellose Start in der Ehrendivision der Beginn eines weiteren großen Ajax-Teams ist, muss sich angesichts der im internationalen Vergleich begrenzten Qualität der Liga zeigen. Wie lange es zusammenbleibt, darüber wird der Verlauf der Champions-League-Saison entscheiden. Der Gala-Auftakt gegen die Rangers deutet zumindest Potenzial an.