Landschaften aus Kuhaugen

Politisch brisante Filme sind oft gefährdet. Das Arsenal zeigt eine Reihe mit kritischen Filmen, die in seinem Archiv gesichert sind

Wortkarg und bildgewaltig: „Die Rekonstruktion“ von Theo Angelopoulos, 1970 Foto: Arsenal

Von Fabian Tietke

Wie Filmkopien ihren Weg ins Archiv finden, ist nicht selten eine Frage des Zufalls. Die Überlieferung der Filmgeschichte steckt voller Überraschungen. „w.p.d.“, „war plötzlich da“, heißt eine der Kategorien des Filmarchivs des Arsenals. Von diesem Wochenende an zeigt es unter dem Titel „There’s a Strong Wind – 
Exil im Filmarchiv des Arsenals“ eine Auswahl von Filmen, die im Archiv des Kinos ein Exil gefunden haben. Einige sind nach der Präsentation auf dem Forum der Berlinale geblieben, weil sie bei der Rückkehr in ihre Produktionsländer unsichtbar geworden wären oder die Filmemacher in Gefahr gebracht hätten, andere wurden von ihren Regisseur_innen mühsam aus den Produktionsländern herausgeschmuggelt.

Dass ein Film wie „Los traidores“/„Die Verräter“ überhaupt gedreht werden konnte, ist bemerkenswert, dass der Film bis heute überlebt hat, ist ein kleines Wunder. Der Film entstand 1973 in Argentinien, realisiert vom Kollektiv „Grupo cine de base“ unter Federführung von Raymundo Gleyzer. Produziert wurde er mit Geld des amerikanischen Internationalisten und Veteranen des spanischen Bürgerkriegs Bill Susman.

Medienbildern von Soldaten an Straßensperren oder Polizisten beim Niederknüppeln von Demonstranten wechseln mit Spielszenen von Diskussionen in Bars und an Straßenecken. Der Film folgt dem Werdegang des fiktiven korrupten, peronistischen Politikers Roberto Barrera. Sein Vater bringt ihn von den Militanten zu den Peronisten und allmählich wird aus dem militanten Gewerkschafter ein Opportunist, der alles tut, um an der Macht zu blieben. „Los traidores“ ist eine präzise, kämpferische Kritik des Peronismus als Verrat an linken Idealen in dem Jahr, in dem Héctor José Cámpora, der Kandidat der Peronisten, in Argentinien zum Präsidenten gewählt wurde. Es sollte der letzte Film sein, an dem Raymundo Gleyzer beteiligt war. 1976, im ersten Jahr der Diktatur, wurde der politische Filmemacher vom argentinischen Regime entführt und ermordet.

Gleich zwei Debütfilme finden sich im Programm. 1969 drehte der slowakische Regisseur Dušan Hanák in der CSSR einen Film über einen Koch in einer Großküche, der an Krebs erkrankt. Statt ihm die Diagnose zu geben, bekommt der Mann vom Arzt nur eine Nummer für seine Erkrankung: „322“. Krankheit als Verwaltungsakt.

Schon die Eröffnungssequenz zeigt eine Gesellschaft der Gewalt und Gleichgültigkeit. Ein Mann traktiert einen anderen auf der Straße, weil er ihn mit einem Rasierpinsel segnen möchte. „Und nun bedank dich.“ Als der Koch einen Schlachthof besucht, um Fleisch abzuholen, zeigt Hanák eine Symphonie des Tötens. Zu Streichermusik formen sich Landschaften aus Kuhaugen, Gedärme hängen wie ein Kronleuchter ins Bild, gleich mehrfach hackt eine Axt in den Kopf eines Pferdes.

Der Koch wird von den Ärzten immer weiter vertröstet. Die Gesellschaft begegnet der Krankheit des Protagonisten, seinem absehbaren Sterben in Hanáks „322“ so schulterzuckend wie dem Sterben im Schlachthof.

Nahezu zeitgleich drehte Theo Angelopoulos in Griechenland seinen ersten Langfilm. Mit Blick auf eine Pfütze rattert eine Stimme aus dem Off Fakten über den Ort der Handlung, Tymphaia in der Region Epirus, herunter. Hinter der Pfütze erstreckt sich eine Straße, ein Bus kommt die Straße herunter und bleibt im Schlamm der Pfütze stecken. Dann arbeitet sich der Bus mühselig in die Berge hinauf. Ein Mann kommt zurück aus Deutschland. „Anaparastassi“ („Die Rekonstruktion“) zeigt die Geschichte eines Mordes. Gemeinsam mit ihrem Liebhaber bringt die Frau des Heimkehrers ihren Mann um.

Schon der Anfang zeigt Gewalt und Gleichgültigkeit in der Gesellschaft

Wortkarg und bildgewaltig wie immer rollt Angelopoulos die Rekonstruktion auf. Mehr als für das Verbrechen interessiert er sich jedoch für das Leben im Dorf, die Abläufe des Alltags und die Interaktion mit den Behörden. „Die Kamera eines griechischen Filmmachers wird vom Schimmel der ‚fiktiven Geschichte‘ befreit“, schrieb der Filmemacher und Journalist Vasilis Rafailides über den Film.

Viele Beiträge in „There’s a Strong Wind“ führen zurück in die späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre, der Anfangszeit des Arsenals und des Internationalen Forums des jungen Films auf der Berlinale. Hinzu kommen zwei Programme aus anderen Zeiten. Mitte der 1980er-Jahre, kurz vor Ende der Militärregierung in Südkorea 1987, drehte die studentische Gruppe „Der offene Film“ einige kurze experimentelle Filme, die 1988, kurz nach der ersten Wahl in Südkorea, auf dem Forum präsentiert wurden. Eine Auswahl ist nun erneut zu sehen.

Gut zehn Jahre später, 1999 befragte Ju Anqi Bewohner_innen der chinesischen Hauptstadt anlässlich des 50. Jahrestags der Gründung der Volksrepublik China nach den Windverhältnissen der Stadt. „There’s a Strong Wind in Beijing“ ist ein selten zu sehendes Dokument jenes Booms des chinesischen Dokumentarfilms, der trotz aller Repression bis heute fortwährt. Der Film gab jetzt der Reihe der sehr unterschiedlichen Filme ihren Namen, deren Kopien im Archiv des Arsenal überlebten.

„There is a Strong Wind“ startet am 5. 8. mit „Die Rekonstruktion“ und läuft bis zum 21. 8. im Kino Arsenal