Der Mob wartet auf den Prozess

„Travestie der Wahrheit“, sagte eine Kommission zu der KlageverschleppungDie Versöhnung von Hindus und Muslimen funktioniert endlich – mit Cricket

AUS BARODA BERNARD IMHASLY

Der Eindruck, der sich beim Betreten von Saal Nr. 4 im Bezirksgericht von Godhra einstellt, ist der eines demokratischen Staats, der seine Pflicht von Recht und Gerechtigkeit ernst nimmt. In der ersten Reihe vor der Holzbrüstung stehen der staatliche Ankläger und drei Verteidiger, vor ihnen hat auf einer erhöhten Plattform der Richter Platz genommen, unter einem Bild von Mahatma Gandhi und flankiert vom Schöffen und dem Gerichtsschreiber. Der sitzt vor einer uralten Remington, unmittelbar gegenüber dem Pult für die Zeugen, wohl um diese über die klappernde Schreibmaschine hinweg noch zu verstehen. Die Angeklagten haben auf Bänken entlang der Fensterfront Platz genommen.

Auf dem Boden vor der Brüstung lag das Beweismaterial – Sicheln, Metallrohre, Schlachtermesser, Sensen, Schwerter. Mit diesen Waffen sollen die 12 Angeklagten an der Spitze eines Hindu-Mobs am 1. März 2002 in ein muslimisches Quartier der Kleinstadt Halol in der Nähe von Baroda im westindischen Gujarat eingedrungen sein. Ihr erstes Opfer war die 24-jährige Ruksana Chorawala. Sie wurde mit einem Schwert enthauptet und ihr Körper mit Messern und Sicheln zerstochen. Sikander, ein junger Mann, der ihr zu Hilfe geeilt war, wurde niedergeschossen.

Die Polizei schaute lange zu, bevor sie einschritt. Daraufhin zog sich der Mob zurück. Nachbarn luden den schwer verletzten Sikander auf eine Rikscha und brachten ihn ins Hospital. Kaum war er eingeliefert, hatten aber auch die Angreifer die Klinik erreicht. Die vier Muslime wurden vom Mob gestellt; zwei von ihnen wurden mit Metallrohren zu Tode geschlagen, zwei weitere, Munaf und Imtiaz, blieben schwer verletzt liegen. Auch Sikander starb.

Das Gewehr, das ihn niederstreckte, liegt nicht in dem Bündel zu Füßen des Richters. Als Munaf und Imtiaz später Anzeige erstatten wollten, wurden sie von der Polizei abgewiesen – es liege schon ein Rapport vor. Doch darin wurden sie und die drei anderen nur als Opfer einer gesichtslosen Menge bezeichnet. Niemand wurde unter Anklage gestellt, keine Zeugen wurden vernommen. Die Schüsse, hieß es weiter in der Akte, sei von einem Polizeigewehr abgefeuert worden. Der Mordfall von Halol erfuhr das gleiche Schicksal wie 2.000 der 4.028 registrierten Klagen im schlimmsten Pogrom des unabhängigen Indien: Sie wurden von den Behörden mangels Beweisen und Angeklagten geschlossen.

Es mussten erst die NGOS und die Nationale Menschenrechtskommission beim Bundesgericht vorstellig werden, um etwas zu bewegen. Das Verhalten der Regierung sei eine „Travestie der Wahrheit und ein Betrug der Justiz“, lautete das scharfe Urteil. Seitdem werden im Staat Gujarat alle Fälle neu aufgerollt.

So kam es, dass Imtiaz im Gerichtssaal Nr. 4 von Godhra doch noch als Zeuge aufgerufen wird. Doch er weiß, dies ist lediglich der zweite Akt der Travestie. Bereits seit einem Jahr wird der Fall verhandelt, „und er wird“, so Richter Thakkar, „wohl noch anderthalb Jahre dauern“. Die Verteidigung tut alles, um die Verhandlung in die Länge zu ziehen. Imtiaz und die anderen sieben Zeugen müssen alle zehn Tage nach Godhra reisen. Drei Arbeitstage gehen ihnen dadurch verloren – ein Verhandlungstag, ein Tag. an dem sie von der jungen NGO-Vertreterin Nawaz Kotwal, ihrem Rechtsbeistand, für die Zeugenaussage vorbereitet werden. Und am dritten Tag müssen sie ein Spießrutenlaufen hinter sich bringen, um das Protokoll der Verhandlung einzusehen. Denn es kam schon mehrmals vor, dass ihre Aussagen darin entstellt worden waren und dass die Verteidigung sie danach der Lüge bezichtigte.

Das Gerichtspersonal und die Verteidiger sind nicht die Einzigen, die die Standfestigkeit der Zeugen strapazieren. Die Schlüsselperson in der Justizscharade ist der Ankläger selbst. Piyush Gandhi ist nicht nur der Staatsanwalt des Bezirks, er ist auch der Distriktchef der „Vishwa Hindu Parishad“(VHP), dem radikalen „Hindu-Weltverband“, dessen Anhängern die meisten Morde von Gujarat zur Last gelegt werden. Gandhi scheut sich nicht, bei Gedächtnisveranstaltungen für die „59 Märtyrer von Godhra“ aufzutreten, deren Tod in einem Expresszug das Gemetzel von 2002 ausgelöst hatte. Gandhi ist es auch, der bei jeder Verhandlung alle Zeugen dabei haben will, obwohl er genau weiß, dass die Verteidigung nur einen Zeugen pro Tag befragen will. Und an diesem Verhandlungstag kommt er auch noch zu spät in den Saal Nr. 4.

Nawaz Kotwal, die für die NGO „Commonwealth Human Rights Initiative“ (CHRI) arbeitet, hat lange daran gearbeitet, um die eingeschüchterten Zeugen dazu zu bewegen, ihre Aussagen zu widerrufen. Aber gegen einen Justizapparat, der alles dafür tut, den Prozess versanden zu lassen, scheint sie nicht anzukommen. Ihr stehen die Strapazen ins Gesicht geschrieben. Gerade hat sie noch geglaubt, einen kleinen Sieg eingefahren zu haben. Eben hat der Richter den Antrag der Verteidigung abgewiesen, künftig jeden Angeklagten einzeln zu verhören. Das würde den Fall nur noch weiter in die Länge ziehen. Es wird ein Pyrrhus-Sieg. Denn der Verteidiger kündigt gegen die Entscheidung des Richters Berufung an. Die Verhandlung muss deswegen für mehrere Monate ausgesetzt werden. Und dann wird der Gerichtspräsident noch den Richter Thakkar für dass bisschen Mut bestrafen, das er gezeigt hat, und ihm den Mordfall Halol entziehen. Ob die mehreren tausend Angeklagten in Gujarat wohl je verurteilt werden? Kotwal lächelt müde. „Ich weiß nicht, wie lange meine Kläger dies noch durchstehen. Aber ich gebe nicht auf.“

Die Stadt Halol hat rund 60.000 Einwohnern, zwei Drittel Hindus, ein Drittel Muslime. Bereits vor den Ereignissen von 2002 war es gelegentlich zu Spannungen gekommen, die aber meist in Sachschäden endeten. Nach den vier Morden am 1. März brach jede Kommunikation zwischen beiden Gemeinschaften zusammen. „Sie waren wie gelähmt“, meint Mehboob Sheikh, damals Gemeindeangestellter. Hindus und Muslime begannen sich auf lange Umwege zu machen, um die Quartiere der anderen zu meiden. Die Hindus verhängten zudem einen wirtschaftlichen Boykott, solange die Muslime ihre Klagen nicht zurückziehen. Diesen blieb nichts anderes übrig, als in Baroda, vierzig Kilometer entfernt, einen Job zu suchen, meist Tagelöhnerarbeit. „Aber auch die Hindus waren paralysiert, denn sie fürchteten Racheakte von unserer Seite“, erzählt Sheikh.

Er erkannte, dass der Graben überbrückt werden muss, sonst ist der nächste Gewaltausbruch nur eine Frage der Zeit. „Eines Tages sah ich, wie einige unserer Jungen in einem Flüchtlingslager Cricket spielten, und Hindu-Buben aus dem Slum in der Nähe schauten ihnen zu. Da dachte ich: Cricket ist der populärste Sport hier. Warum es nicht mit diesem Sport versuchen?“ Zusammen mit Yuvshakti, einer von der NGO Janvikas nach den Unruhen gegründeten gemischten Jugendvereinigung, organisierte er vor zwei Jahren das erste Turnier mit zwölf gemischten Teams. Die VHP hatte die Hindus zwar gewarnt, die Veranstaltung zu besuchen, aber die Anziehung eines Cricket-Turniers – der Sport ist in Indien so etwas wie eine dritte Religion – war stärker. Einige Dutzend Hindus mischten sich unter die 300 muslimischen Zuschauer. Im vorigen Jahr waren es dann schon 35 Teams, und beim dritten Turnier im vergangenen Januar 68 – alles gemischte Teams, die gemeinsam trainieren. 25.000 Zuschauer kamen.

Die Turniere zeigten erste Erfolge: Einige der Teams sind zusammengeblieben; vor allem aber begannen Hindus und Muslime wieder miteinander zu verkehren, nicht nur in puncto Sport. Nach dem Januar-Turnier wurde sogar der Boykott gelockert. Hindu-Geldverleiher geben Muslimen nun wieder Kredit, diese können in Hindu-Läden wieder einkaufen.

Die Strategie der Annäherung wird nicht von allen Muslimen geteilt. Mukhtar Sheikh, ein früherer Geschäftsmann aus der Nachbarstadt Khalol, befürchtet, dass mit ihr auch der psychologische Druck auf die Muslime wachsen wird, die Klagen zurückzuziehen. „Das wäre schlimm. Denn wie sollen wir ohne Recht uns je wieder sicher fühlen? Und nur das Recht wird die Hindus davon abhalten, wieder zur Waffe zu greifen.“ Auch unter den NGOs hat sich ein Graben aufgetan. Dies wurde in den letzten Monaten deutlich, als eine NGO namens Janandolan vorschlug, alle Klagen fallen zu lassen, die nicht Mord, Mordversuch und Vergewaltigung betrafen. Die über 4.000 anhängigen Klagen würden sonst den Justizapparat so verstopfen, dass die wirklich schweren Fälle wie jener von Halol niemals zum Abschluss kämen.

Qasimbhai, ein Bewohner des Dorfs Boru, hat seine Klage zurückgezogen, obwohl er die vier Hindus wiedererkannt hatte, als sie am 1. März einen Mob anstachelten, die Muslim-Häuser einzuäschern. „Wir müssen mit den Hindus leben, ob wir es wollen oder nicht“, sagt er und fügt hinzu: „Ein jahrelanger Gerichtsfall wird mich zerstören. Und die Angeklagten? Sie laufen schon jetzt frei herum.“

Nawaz Kotwal, die am besten weiß, welche Sisyphus-Arbeit schon ein einzelner Gerichtsfall bedeutet, lehnt die Janandolan-Initiative ab. „Ohne ein Mindestmaß an Gerechtigkeit ist kein Zusammenleben möglich. Oder nur eines, in dem die verschiedenen Gemeinschaften mit zweierlei Recht gemessen werden. Es wäre eine legalisierte Ungerechtigkeit. Ich weiß, viele Fälle mögen versanden – doch sie werden nicht mit Freisprüchen enden, und das ist wichtig“.