Eine flirrende Reportage – ganz nah erzählt

Podcast Die Serie "S-Town" ist außergewöhnlicher Radiojournalismus aus den USA

John McLemore hasst seine Stadt. S-Town in Alabama, auch Shit-Town genannt, sei voll mit rassistischem, homophobem und kriminellem Pack, urteilt er. McLemore, ein rätselhafter Uhrenmacher, kontaktiert den Reporter Brian Reed, damit dieser einen Mord aufklärt. Im Sommer 2012 soll der Sohn eines ­Millionärs einen anderen Jugendlichen auf einer Party geschlagen haben. Reed fängt an zu recherchieren, doch dann stirbt plötzlich ein anderer, und auf einmal geht es um eine ganz neue Frage.

So beginnt die Geschichte von „S-Town“, die seit Dienstagnacht online ist. Es ist die zweite Sendung von den Machern von „Serial“, die 2014 mit ihrem investigativen Audiopodcast in den USA und darüber hinaus einen riesigen Erfolg feierten. Dahinter steht wie auch bei „S-Town“ das Team der Radiosendung „This American Life“. „S-Town“ ist eine flirrende Reportage, die dem Genre des Audio-Storytelling Ehre macht.

Riesenerfolg „Serial“

In der ersten Staffel von „Serial“ untersucht die Reporterin Sarah Koenig den Mord an der 17-Jährigen Hae Min Lee aus Baltimore, Maryland, die im Jahr 1999 tot in einem Park aufgefunden wurde. Veurteilt wurde ihr Ex-Freund Adnan Syed. Doch die Beweise sind dünn. In der zweiten Staffel ging es um den ehemaligen US-Soldaten Bowe Bergdahl, der nach fünf Jahre als Gefangener der Taliban in den USA als Deserteur angeklagt wurde.

In „S-Town“ wird kein alter Fall wird nacherzählt, der Reporter ist dort, wo etwas passiert. John McLemore aus S-Town hatte, nachdem er die ersten beiden Staffeln von „Serial“ mitverfolgte, von sich aus den Reporter angeschrieben. Er habe neue Beweise aus erster Hand wegen eines Mordes, schrieb er in einer Mail. Ein Jugendlicher habe ihm erzählt, wer der Mörder sei.

Wer ist dieser Mann, fragt man sich da. Sucht er bloß Aufmerksamkeit? John ist ein seltsamer Mensch. Er hat in seinem riesigen Garten ein Labyrinth pflanzen lassen, dass er selbst fast nie betritt. Reporter Brian Reed nimmt in seiner Zwischenmoderation Fragen vorweg, die sich auch die Zuhörenden bald stellen. Hier wird auf den gewohnten „Serial“-Stil, immer eine noch tiefere Frage parat zu haben, zurückgegriffen. Dieser zeichnet sich außerdem dadurch aus, dass wir den Reporter*innen beim Denken und Recherchieren zuhören.

Besonders gelungen sind die vielen Liveaufnahmen vor Ort. Die langen, nachdenklichen und repetitiven Passagen, in denen Sarah Koenig in den ersten beiden Staffeln das Geschehene immer wieder durchkaut, sind lebensnahen Szenen gewichen. Reed lässt seine Interviewpartner*innen für sich selbst sprechen, kommentiert nur das Nötigste und beschreibt uns, was wir selbst nicht sehen können: Die Graffitti unter der Brücke, die vielen Uhren in McLemores Werkstatt – eine triste Stadt und ein weirder Typ, der alles und jeden als „Failure“ bezeichnet. Der keine Tattoos mag, obwohl er sich dauernd neue stechen lässt. Der Rassismus hasst, obwohl er selbst davor nicht gefeit ist. Doch bald wird klar: Wahrheit ist, zumindest in S-Town, mehr als relativ.

Noch stärker als in dem Vorgängerformat, wird der Reporter Teil seiner Erzählung. Reed spricht immer wieder davon, wie er sich als Journalist mit italienisch-russischen Eltern vor Ort verhält. Seine jüdische Identität verschweigt er – aus Angst, antisemitische Anfeindung zu erfahren. Er verschleiert seine Identität und setzt sich immer in Beziehung zu McLemore. Wenn sie am Telefon sprechen, hört man Reed kichern, glucksen, atmen. Er zeigt ehrlich, welche Emotionen er in den Gesprächen hat, und beginnt, McLemore ins Herz zu schließen, ihm zu misstrauen, bis er sich zum Schluss verantwortlich für ihn fühlt. Irgendwann stellt sich die Frage, wie eine Recherche das Geschehen beeinflusst.

Der Fall Adnan Syed war lange Zeit verloren geglaubt. Nun findet im Gericht eine zweite Anhörung statt. Die Serial-Berichterstattung wird dabei keine unbedeutende Rolle gespielt haben.

Milan Ziebula