Zwei Tage Europa
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Die Stimmung, sagt Gregoire Rifault, war besser als einen Abend zuvor, als Belgien ins EM-Achtelfinale einzog. Jetzt füllt leise Musik den Laden, der Bildschirm liegt verwaist. Das Neueste: Sunderland will raus, Newcastle-on-Tyne nicht. +++ 3 Uhr, London. 50,5 Prozent der jetzigen Stimmen sind für Out. +++ 3.12 Uhr, London. Der Wettanbieter Betfair glaubt jetzt an den Brexit. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 63 Prozent komme er. +++ 4.46 Uhr, London, Mill­bank Tower, Ukip-Party. Heitere Stimmung. EU-Parlamentarier Finch ist euphorisch: „Dies ist, worauf ich seit zehn Jahren gewartet habe. Freiheit, wir haben unsere Freiheit wieder!“ Er will das mit mehr Bier feiern, an der Bar gibt es nur noch Wasser. Wenig später betritt Ukip-Führer Nigel Farage den Raum. Hat er Tränen in den Augen? Es folgt eine Rede, die vom Sieg für echte Menschen gegen den Kampf der großen Politik handelt. +++ Zwischen 4 und 5 Uhr, Großbritannien. Die Suchanfrage bei Google „Was passiert, wenn wir dir EU verlassen“ erreicht einen historischen Höchstwert. +++ 5.10 Uhr, London. Die BBC meldet den stärksten Fall des Britischen Pfunds seit 1985, auf 1,3463 US-Dollar. Stunden zuvor hatte es noch den Spitzenwert des laufenden Jahres erreicht: 1,5001 US-Dollar. +++ 5.40 Uhr, London. Die Fernsehsender BBC und ITV rufen das Brexit-Lager zum Sieger der Nacht aus. Mehr als zwei Drittel der Wahlkreise sind ausgezählt, 11,59 Millionen Stimmen für den Brexit, 10,88 Millionen dagegen. +++ 8 Uhr, Brüssel, Europäisches Parlament.Die „Präsidenten“ kommen zusammen, Parlamentspräsident Martin Schulz und die Vorsitzenden der Fraktionen. Manfred Weber, Kopf der Christdemokraten, verweilt vor dem Eingang: “Ein trauriger Tag. Aber jetzt hat Großbritannien das größere Problem. Das Pfund ist auf Talfahrt, der Euro stabil.“ +++ 8.11 Uhr, London.Das offizielle Ergebnis ist da. 52 Prozent Out, 48 In. +++ 9.01 Uhr, Berlin, Deutscher Bundestag, Plenarsaal.180. Sitzung dieser Legislaturperiode, Bundestagspräsident Norbert Lammert findet erste Worte: „Großbritannien hat den Austritt aus der EU beschlossen, dennoch ist die Sonne wieder aufgegangen. So bedauerlich das eine ist, so beruhigend ist das andere. Deshalb müssen wir uns jetzt ruhig und zügig mit den daraus folgenden Konsequenzen beschäftigen.“ +++ 9.26 Uhr, London, 10 Downing Street.Der britische Premierminister David Cameron verkündet seinen Rückzug für Oktober. +++ 9.48 Uhr, Brüssel, EU-Parlament, Presseraum.Längst hätte Martin Schulz das Podium betreten sollen, bislang ist da nur ein Mitarbeiter, der die beiden EU-Flaggen zurechtzieht. Dann Schulz. Das Parlament will am Dienstag über die nächsten Schritte debattieren. „Sehr traurig“, sagt er, sei er über den Rücktritt Camerons. Und zum Brexit? „Ein souveräner Ausdruck der britischen Wähler, wegzugehen. Ein schwerer Moment für beide Seiten.“ Nach-Brexit-Sprache. Nach fünf Minuten bedankt sich Schulz und geht.