„Zu teuer? Ist halt immer relativ“

Das bleibt von der Woche Die Arbeitslosenquote in Berlin sinkt erstmals seit dem Mauerfall auf unter 10 Prozent, das Fahrrad-Volksbegehren bekommt nicht nur wissenschaftliche Unterstützung, ein Jahr nach Einführung der Mietpreisbremse weiß man, dass sie gar nicht bremst, während der Fall Jusef nach vier Jahren endlich abgeschlossen ist

Die magische Marke ist durchbrochen

Arbeitslosenquote

Berlin sei auf einem sehr guten Weg, jubelt der Regierende Bürgermeister

Dass sich der Arbeitsmarkt in Berlin für Berufstätige entspannt haben muss, kann jeder sehen, der mit offenen Augen und Ohren durchs Leben geht: Im Kindergarten werden händeringend Erzieher gesucht, beim Bäcker arbeitet eine junge Frau, die Schwierigkeiten im Kopfrechnen hat, und die Verkäuferin am Erdbeerstand hat es nicht so mit der Freundlichkeit. All das zeigt: Arbeitgebern fällt es zunehmend schwer, frei werdende Stellen zu besetzen – und so können auch Menschen zum Zug kommen, die vor Jahren noch keine Chance auf einen Job hatten.

Die offizielle Statistik, die die Arbeitsagentur in dieser Woche bekannt gab, belegt diesen Trend: Erstmals seit der Wiedervereinigung ist die Arbeitslosenquote in Berlin unter 10 Prozent gesunken, im Mai dieses Jahres lag sie bei 9,7 Prozent. Zum Vergleich: In Brandenburg betrug die Quote durchschnittlich 8 Prozent, wobei sie in den berlinnahen Kommunen weit darunter liegt. Hier herrscht also fast schon Vollbeschäftigung.

Der Berliner Landes- und Bezirkspolitik, die viele Probleme der Stadt nicht in den Griff kriegt, kommt das Rutschen unter die 10 Prozent gerade recht. Eine „magische Marke“ sei durchbrochen worden, freut sich Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU). Berlin sei auf einem sehr guten Weg, jubelt der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD).

Dabei dürfte dieser Weg noch steinig werden. Denn für viele der neuen Jobs, die zum Beispiel die Internet- und Kreativszene in die Stadt bringt, sind die allermeisten Arbeitslosen und Flüchtlinge in Berlin nicht qualifiziert. Solche Jobs werden häufig von außerhalb besetzt – was wiederum die Nachfrage nach Wohnraum und damit die Mieten steigen lässt.

Aber: Jeder Neuberliner mit einer guten Stelle bringt Geld in die Stadt, und er schafft eine Nachfrage nach öffentlichen und privaten Dienstleistungen. Und so kommt es eben, dass derzeit nicht nur Kitas und Bäcker Arbeitskräfte suchen, sondern auch Handwerksbetriebe und Behörden. Wenn das dazu beitrüge, das miese Lohnniveau in Berlin anzuheben, hätten alle etwas davon. Richard Rother

Für anderes hat die SPD genug Geld

Volksbegehren Fahrrad

2015 hat die SPD nicht mal das selbst gesteckte Minimalziel erreicht

Zu teuer. Das ist das zentrale Argument des rot-schwarzen Senats und vor allem seiner SPD-geführten Verkehrsverwaltung gegen das Fahrrad-Volksbegehren. 60 Wissenschaftler haben am Montag in einem Brief seine Forderungen unterstützt, am Mittwoch stellten sich die Grünen dahinter und die Polizei ließ diese Woche in ungekannter Weise parkende Autos von Radwegen räumen. Doch SPD-Staatssekretär Christian Gaebler sagte ungerührt am Donnerstag dem RBB sinngemäß: Das Volksbegehren fordere zu schnelle Änderungen, was das Ganze zu teuer mache.

Zu teuer. Ist halt immer relativ. Als Gaeblers Parteifreund Raed Saleh, der SPD-Fraktionschef, durchsetzte, dass nun auch die Eltern von Kleinkindern nichts mehr für einen Kita-Platz bezahlen müssen, selbst wenn sie auf Reichtümern sitzen, waren plötzlich die nötigen Mil­lio­nen da. Da reichte es sogar dafür, noch kleinere Kita-Gruppen in Aussicht zu stellen, als Elternlobbyisten gefordert hatten.

Unabhängig davon, ob man das nun gut oder schlecht findet – es war eine politische Entscheidung, Geld aus dem Landeshaushalt dafür auszugeben und nicht für anderes. Nicht für noch mehr Schulsanierung, nicht für mehr Jugendhilfe. Und eben auch nicht für ein Mehr beim Thema Radverkehr. Grünen-Fraktionschefin Antje Kapek erinnerte die SPD jetzt zu Recht an das, was die Sozis selbst einräumen: dass sie 2015 noch nicht mal das selbst gesteckte Minimalziel erreicht haben, pro Einwohner 5 Euro für den Radverkehr auszugeben. Im Bundesschnitt sind es 10 Euro.

Berlin hat zwar weiter fast 60 Milliarden Euro Schulden, war aber in den vergangenen vier Jahren in der Lage, gleichzeitig Schulden abzubauen und viel Geld in neue Projekte zu investieren. Warum das ausgerechnet bei der so viele Menschen bewegenden Forderung nach sichereren und schnelleren Radwegen nicht möglich sein soll, ist schleierhaft. Da drängt sich zwangsläufig eine Vermutung auf: dass das Thema bei der SPD denselben Stellenwert hat, den ihr Exkanzler Schröder mal der Familienpolitik zumaß – Gedöns. Stefan Alberti

Regelwerk ohne Wirkkraft

Mietpreisbremse

Für eine praxistaugliche Mietpreisbremse braucht es mehr als aktive Mieter

Wird eine Wohnung neu vermietet, darf die Miete nicht beliebig hoch sein. Das gilt – dank der Mietpreisbremse – seit einem Jahr für ganz Berlin. Die Bremse bremst aber nicht, das sagt nicht nur der Berliner Mieterverein. Aber der kann es beweisen: 31 Prozent der Angebotsmieten seien höher als erlaubt, geht aus zwei Studien im Auftrag des Vereins hervor, die am Montag vorgestellt wurden. Damit Mieter unzulässig hohe Mieten erkennen und dagegen vorgehen können, müssen sie kurz nach Vertragsabschluss selbst aktiv werden. Das wird ihnen aber – und hier liegt der Knackpunkt – vom Gesetzgeber unnötig schwer gemacht.

Laut Bremse gilt: Die zulässige Miete darf bei Wiedervermietung maximal 10 Prozent teurer sein als eine vergleichbare Wohnung in der Umgebung. Diese sogenannte ortsübliche Vergleichsmiete wird mithilfe des Mietspiegels errechnet. Die Mietpreisbremse würden aber vor allem private Vermieter und Wohnungsunternehmer missachten, sagt der Mieterverein. Er fordert Sanktionen.

Wer wissen will, ob die eigene Miete höher ist als erlaubt, kann das kostenlos beim Mieterverein prüfen lassen. Oder es auf der Internetseite der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung selbst errechnen. Damit kann der Mieter, auch noch nach Einzug in die neue Wohnung, gegen zu hohe Mieten vor­gehen. Klingt einfach – macht aber niemand. Selbst schuld, könnte man meinen. Aber es gibt Ausnahmen wie bei Neubau oder Sanierung, die es dem Mieter schwer machen.

Zudem greift die Mietpreisbremse nicht, wenn der Vormieter auch schon zu viel bezahlt hat. Kassierte also der Vermieter bereits vor einem Mieterwechsel mehr als erlaubt, darf er das auch künftig tun. Die Miete des Vormieters rauszubekommen ist schwierig. Der Vermieter ist nicht zur Auskunft verpflichtet.

Und das nervt. Eine Pflicht zur Auskunft wäre hilfreich. Es ist wie beim Joghurt: Da weiß der Kunde dank klarer Deklarierung, was er kauft. Auch bei Mieten würde eine Deklarierungspflicht helfen. Bausenator Andreas Geisel arbeitet deswegen an einer Bundesratsinitiative. Er fordert eine Informationspflicht für den Vermieter bei Mietbeginn. Das sei zwar eine Verbesserung, reiche aber nicht – sagt der Mieterverein, der die Vormieter-Ausnahme komplett abschaffen möchte.

So oder so gilt: Um die Mietpreisbremse praxistauglich zu machen, braucht es mehr, als daran zu appellieren, dass der Mieter aktiv werden muss. Man muss ihm dabei helfen. Dafür braucht es eine Gesetzesverschärfung auf Bundesebene.

Sophie Schmalz

Prozess mit bitterem Geschmack

Der Fall Jusef

Selbst dem Richter kam das alles wohl ein bisschen merkwürdig vor

Vor vier Jahren wurde in Neukölln der 18-jährige Jusef El-A. getötet. Das war das bittere Ende eines Konflikts, der wegen einer Nichtigkeit auf einem Fußballplatz ausgebrochen war. Bis Montag standen zwölf junge Männer vor Gericht, die vier Jahre nach dem damaligen Geschehen nun wegen der „Beteiligung an einer Schlägerei mit Todesfolge“ angeklagt waren. Dass es sich dabei nicht um Mitglieder der Konfliktgruppe handelte, aus der heraus Jusef erstochen worden war, sondern um die Freunde des Getöteten, mag merkwürdig anmuten. Ebenso, dass gegen sie vier Jahre lang ermittelt werden musste, während der Mann, der Jusef erstochen hat, wenige Tage nach der Tat schon wieder auf freiem Fuß war, weil die ermittelnden Beamten seine Tat für Notwehr hielten.

Dass selbst dem Richter das alles ein bisschen merkwürdig vorkam, erklärt wohl, warum er gegen zehn der zwölf Angeklagten das Verfahren gleich in den ersten Prozesstagen einstellte und nur zwei mit geringen Geldstrafen bestrafte.

Damit könnte der Fall Jusef nach vier Jahren endlich abgeschlossen sein. Doch es bleibt ein bitterer Nachgeschmack – nicht nur, weil es jetzt nur die Freunde des Toten sind, die für die Eskalation des Konflikts und damit für seinen Tod bestraft wurden. Bitter ist auch der Blick, der vor Gericht von Zeugen, aber auch der Staatsanwaltschaft auf die an dem Tötungsfall Beteiligten geworfen wurde.

Ist es Rassismus, wenn ein als Zeuge geladener Polizeibeamter von der überwiegend aus migrantischen Jugendlichen bestehenden einen Konfliktgruppe als „Mob“ oder „Meute“ spricht, einem erwachsenen Deutschen dagegen, der zur anderen Seite gehörte, verständnisvoll ein „vielleicht etwas brachiales Auftreten“ bescheinigt, weil der Mann mit einer Machete bewaffnet war? Er habe damit ja nur schlichten wollen, so der Kriminalbeamte.

Wenn das die Perspektive ist, die Berliner Ermittlungsbehörden auf die multikulturelle BewohnerInnenschaft der Stadt haben, dann braucht es noch eine ganze Menge an Sozialkompetenz-Seminaren, bis junge Berliner wie die Freunde von Jusef El-A. vor Berlins Gerichten eine wirklich faire Chance haben. Alke Wierth