„Bulgarien hat zu wenig Eigeninitiave“

Die bulgarische Außenpolitikerin Antoaneta Primatarova über die zu großen Erwartungen des Landes an den Beitritt in die Europäische Union, Defizite und fehlenden Gestaltungswillen der bulgarischen Politik und die Aufgabe Europas

taz: Am kommenden Dienstag wird in Brüssel der nächste Monitoring-Bericht zu Rumänien und Bulgarien vorgelegt. Wo sehen Sie die größten Defizite auf dem Weg Ihres Landes in die Europäische Union?

Antoaneta Primatarova: Die größte Herausforderung ist, Bereiche, wo es keine übergeordnete EU-Politik gibt, endlich zu reformieren. Die Justiz ist so ein Bereich. Im Kapitel Justiz und Inneres fehlen genaue Vorschriften, wie das Justizsystem aufgebaut sein muss. Doch das ist nicht der einzige Grund, dass wir in Verzug geraten sind. Es fehlt an politischem Willen und Visionen der politisch Verantwortlichen.

Was bedeutet das konkret?

Im Vorbereitungsprozess auf den EU-Beitritt hat sich Bulgarien wie ein Schüler benommen und die EU als Schulmeister betrachtet. Es mangelte in Sofia an Einsicht in die Notwendigkeit von Reformen. Das hat auch mit der Gestaltung des Prozesses insgesamt zu tun, dass Bulgarien zu wenig Eigeninitiative ergriffen hat. Brüssel wurde eine Rolle aufgezwängt, die es gar nicht spielen wollte.

Noch unterstützt eine Mehrheit den Beitritt des Landes zur EU. Gleichzeitig hat man den Eindruck, dass die Menschen zunehmend verunsichert sind.

Die Unsicherheit rührt daher, dass nie klar gemacht wurde, in wieweit die EU das moderne Bulgarien gestalten wird. Die EU ist eine Union, die nicht den gesamten Rahmen der Politik bestimmt. In wesentliche Bereiche wie Gesundheitswesen oder Rentensystem greift die EU nicht ein. Die Menschen in Bulgarien haben die EU jedoch mit Erwartungen überfordert, denen Brüssel gar nicht gewachsen ist. Sie glauben, dass sich mit dem EU-Beitritt viele Probleme lösen werden.

Da sind Enttäuschungen programmiert. Warum sparen die politisch Verantwortlichen das Thema EU-Beitritt aus der öffentlichen Debatte aus?

Die Koalitionsbildung in Bulgarien nach den Wahlen wurde erklärt mit der Notwendigkeit des EU-Beitritts. Dadurch wurde aber die Diskussion über die begleitende nationale Politik vertagt. Darin sehe ich eine große Gefahr, dem Euroskeptizismus im Land Vorschub zu leisten. Was wir jetzt brauchen, sind viele Diskussionen. Die wesentliche Aufgabe ist, nicht nur zu erklären, was die EU tut, sondern auch zu sagen, was sie nicht tut. Ich würde es so formulieren: Für Bulgarien ist der Beitritt zur EU eine absolut notwendige Bedingung für die gelungene Gestaltung der Politik. Er ist jedoch keineswegs eine hinreichende Bedingung.

Verfolgt man in Bulgarien, wie der Prozess in Rumänien verläuft?

In beiden Ländern besteht die Furcht, dass das jeweils andere Land zum Handicap für den eigenen Beitritt wird. Bulgarien und Rumänien sitzen aber im selben Boot. Denn letztlich ist jede Erweiterung der EU einer neuen geopolitischen Realität geschuldet.

Können Sie sich vorstellen, dass Rumänien und Bulgarien der EU zu unterschiedlichen Terminen beitreten?

Das wäre keine gute Lösung. Auch die Politik der EU gegenüber dem Westbalkan, das heißt kein Gruppenbeitritt mehr, ist falsch. Es gibt gewisse geografische, historische, kulturelle und geopolitische Zusammenhänge, die eine solche individuelle Behandlung unmöglich machen. Rumänien und Bulgarien müssen gemeinsam beitreten, und ich glaube, dass sowohl die Europäische Union als auch der Westbalkan davon profitieren würde, wenn eine solche gemeinsame Strategie für den Westbalkan formuliert würde. Ansonsten würde das zu sehr vielen Problemen der Zusammenarbeit in der Region führen.

Was würden Sie den Erweiterungsskeptikern in der EU entgegnen?

Die Frage ist doch, welche Rolle Europa in der Welt spielen will. Die Erweiterung der EU mit Bulgarien, Rumänien, dem Westbalkan und mit der Türkei ist notwendig, damit Europa den neuen Herausforderungen gewachsen ist. Europa hat sich stets neu erfinden müssen. Und das ist jetzt wieder gefragt.

INTERVIEW: BARBARA OERTEL