Kaukasus Hilton, Stalin und das Schwarze Meer: Batumi in Georgien ist eine absurde Stadt
: Missverhältnis am Wasser

Batumi: ein Ort wie aus Playmobil. Kirchturmspitzen sind vergoldet, Hotelfassaden sind vergoldet. Oder nur golden angeleuchtet Foto: Oleksandr Rupeta/agefotostock/avenue-images

von Annabelle Seubert

Im Norden der Stadt stehen Männer auf der Straße: gucken und nicken. Blick aufs Handy, Blick in die Luft. Standbeinwechsel, Rauch auspusten. Jetzt wegdrehen, lachen, Ausgangsposition. Dann beipflichten, dagegen sein, „ara“ sagen und „diach“ – „nein“ – und „ja“ und öfter „nein“ als „ja“ – einer zeigt noch wohin, rüber zum Meer. Dann ist wieder Ruhe.

Möwen fliegen ohne Ton. Kräne bewegen sich nicht. Ein Tanker liegt im Hafen, ein Hund liegt auf Kies. Die Gischt rollt so träge an Land, als werde sie dort nicht erwartet, und damit hätte sie recht: Batumi, Ende Januar, 11 Uhr. Die Küste ist einsam und grau. Nirgends Johlen, nirgends Jet-Skis. „Souvenirs“ steht auf dem Kiosk, auf den ein Delfin gedruckt ist, im Sprung und gut gelaunt, bloß fehlen die Souvenirs genau wie die Menschen – der Kiosk rostet, und hinter ihm dreht sich ein leeres Riesenrad. Blinkt, quietscht und quietscht lauter, seine Gondeln geben nicht auf: Da kommt doch noch wer?

Kommt da noch wer?

Batumi: ein Wort wie für Kinder. Kommt wirklich wer an diesen Ort in Georgien, im Winter, muss ihn das Leben angespült haben wie das Schwarze Meer Tüten aus Plastik. Irgendeinen Grund wird es schon gegeben haben. Einen Richtungswechsel vielleicht, Ebbe und Flut. Endlich eine Strömung, die stark genug war. Der Wind, der sich gedreht hat.

Batumi: ein Ort wie aus Playmobil. Kirchturmspitzen sind vergoldet, Hotelfassaden sind vergoldet. Palmen säumen den Weg ins Zentrum, man hat Lichterketten um ihre Stämme gewickelt, weil in Georgien gerade Weihnachten war, orthodoxes Weihnachten; man geht unter Glühbirnen und Discokugeln. Man braucht nur den Kopf zu heben, um das nächste Riesenrad zu sehen. Es ist tatsächlich eingelassen in die oberen Stockwerke der Technischen Universität, die leer steht, weil man erst spät festgestellt haben soll, dass die Räume zu eng geraten sind. Batumi ist ein ausgehöhlter Ort, ein Ort für die Hitze, die Zahl der Urlauber hat sich 2010/2011 innerhalb eines Jahres vervierfacht: Von Mai bis September spazieren sie hier die Liegestühle entlang und schauen aus Glasgebäuden with ocean view auf den Horizont. Einer jener austauschbaren Orte, wie sie weltweit ihre Existenzberechtigung erwirkt haben: S’Arenal auf Mallorca. Phuket in Thailand. Eilat in Israel. Batumi in Georgien.

Ein Brunnen voller Schnaps

Und dann auch wieder nicht. Batumi ist speziell, schon allein, weil sich Georgiens Gesellschaft in Sozialismusnostalgiker und Demokratieanhänger teilt, die den Einfluss der Kirche zu ignorieren versuchen. Zwischen dem Hilton und dem Radisson Blu verfallen Stalins Platten. Stromkabel hängen von Dächern. Putz verblasst. Wäschestangen sind an Balkone montiert und ragen ins Nichts, lassen Bettbezüge aussehen, als könnten sie fliegen.

Die Stadt liegt da, als Missverhältnis am Wasser. Sie hat beides abgekriegt: die hässliche Seite des Kommunismus und die hässliche Seite des Kapitalismus. Im Sommer sprudelt um 17 Uhr Schnaps aus einem Brunnen am Strand, jeden Tag. Dann kommen die Obdachlosen, um zu vergessen, und die Touristen fallen besoffen in die Brandung. Im Winter hat ein Taxifahrer hier nichts zu tun und spuckt aus dem Fenster seines Wagens. Er steigt aus und wandelt, Kippe im Mund, über Schneereste. Auf. Und ab.

Was hält einen hier?

Möwen fliegen ohne Ton. Kräne bewegen sich nicht. Ein Tanker liegt im Hafen, ein Hund liegt auf Kies

„Alles“, sagt Maria, wenn man sie auf der Straße anspricht und fragt. Es riecht nach Fisch aus dem Hinterhof, aus dem sie gelaufen kommt. „Man sieht es bloß nicht gleich.“ Jeans trägt sie, die Haare nachlässig. Maria Mamuladze ist zwanzig Jahre alt, studiert englische Literatur und will, sagt sie, in Batumi leben und sterben. Jede Woche liest sie ein Buch „für die Karriere“ – damit sie „nicht so früh Mutter werden muss“, wie viele Mädchen ihres Landes es werden, wie sie sagt: Mädchen, die mit 18, 19 ihren Elternhäusern entheiratet werden.

Maria verfasst Kurzgeschichten und Lyrik, hat erste Schreibwettbewerbe gewonnen. Einmal, sie zieht die Schultern zurück und richtet den Rücken auf – es braucht Haltung für diesen Satz: einmal den „first place in Georgia“. Sie zeigt ihre Uni­versität, nennt ihre Lieblingsdichter, dann ist ihre Führung vorbei: Sie setzt sich an einen künstlich angelegten See, um den die Leute mit Sonnenbrillen laufen, weil sich die Wolken verzogen haben. Maria, zwischen Farn und Kakteen, sagt, dass sie die Armut ihrer Heimat frustriert. Dass man die Alten in den Vororten überzeugen müsse, dass es sich lohne, liberal zu sein. Dass ihr schwuler Freund gern offen schwul wäre. Dass man beides kritisieren könne, erklärt sie: die Sowjetunion und den brachialen Tower, den Donald Trump in Hafennähe für mindestens 250 Millionen Dollar errichten lässt. Dass sie ihre Mutter verehre, weil sie für die Bildung ihrer Kinder arbeite, der alte Spruch „Ihr sollt es besser haben“ – so etwa erklärt Maria das, und wenn man damit nicht ihrer Stadt verfällt, dann doch wenigstens ihr.

Batumi, 13 Uhr: Aus einem Restaurant, in dem ein Kellner ohne Kunden hockt, schallt Pop. Die Boxen sind laut gestellt und die Fenster geöffnet. „Baby I’m worth it.“ 11 Grad.

„Die orthodoxe Kirche ist nicht der orthodoxe Glauben“, hat Maria noch gesagt, fast gelangweilt, wie im Seminar gelernt, bevor sie aufgestanden ist und goodbyegesagt hat. Auf ihrem Heimweg wird sie an Casinos und Limousinen vorbeigekommen sein, an Ständen, an denen mit Pelzmänteln und Hausschuhen gehandelt wird, an diesem Baum ganz aus Lametta – und schließlich, später, an den Kirchen.

Dass Liebe heißt, mit jemandem beten zu können, hat doch mal jemand geschrieben, implizit. Wer war das noch – Böll?

15 Uhr: Ladas fahren, Mercedes fahren. Kurz vor dem New Boulevarddrängen sich der Verkehr und Gerüst an Gerüst. In einem Bauskelett, rund und hoch wie der Turm von Pisa, aber gerade, fegt ein Einzelner Staub. Vor einem Bauskelett, viel höher als breit, stehen wieder Männer in Gruppen: mit Schaufeln diesmal, aber geschaufelt wird nicht – es wird geguckt und genickt. Blick in die Grube, Blick in die Luft: Aus einer Etage, von weit oben, kommt etwas geflogen. Eine Sache kommt geflogen, denn erst ist es eine Sache, so körperlos und schwer zu fassen wie die Liebe, wenn sie beginnt. Dann erhält die Sache Konturen, man sieht jetzt ihre Farben, sie ist silbern und blau und rot, sie bekommt ihre Gültigkeit, sie bekommt jetzt einen Namen: Sie heißt Red Bull und ist eine Dose – und wie diese Dose so fällt, fällt und fällt, und die Augen der Männer folgen ihrem Fall, und wie sich die Männernacken so senken, immer weiter, je tiefer die Dose fällt, und niemand sagt ein Wort, bis sie im Dreck landet, platsch, versenkt – da hat das fast was Andächtiges.

Dass überall Schönheit ist, wer hat das noch geschrieben – Rilke, Max Frisch? Mascha Kaléko?

Im Süden der Stadt muss man durch Häuserschluchten, um zum Meer zu kommen. Dann steht man vor einem Fußballfeld mit gelben Sitzen am Rand und einer Pfütze als Spielfeld. Man steht vor einem Volleyballnetz mit Löchern, einem abgesperrten Skatepark. Geschlossenen Hotelanlagen, geschlossenen Rutschen.

Ein Strand ohne Menschen

16 Uhr, die Wellen schwappen. Möwen fliegen ohne Ton. Kräne bewegen sich nicht. Man kann die Jacke ausziehen, den Wind unterm Pulli spüren. Man kann sieben Kilometer neben dem Meer laufen, ohne auf sieben Menschen zu treffen. Vielleicht kriegt man Farbe im Gesicht, vielleicht schaut man in den Himmel.

Batumi im Winter: 14 Grad. Was, wenn man bliebe?