Seidenstrümpfe für die Sozialistin

EMANZIPATIONSGESCHICHTE An den politisch aktiven Frauen der 20er Jahre besteht wieder Interesse. Etwa an der Biografie der Münchner Sozialistin Hilde Kramer, die Rike Eckerman morgen in der Volksbühne vorstellt

Moskau 1923, Hilde Kramer (Mitte) arbeitet als Übersetzerin im Verlag der Kommunistischen Jugendinternationale Foto: Familienarchiv Kramer und Fitzgerald

von Laura Aha

„Hünenmädchen“ wurde sie genannt. In den Räterevolutionsjahren um 1918 war die politisch aktive, „rote“ Hilde Kramer in München bekannt wie ein bunter Hund – wohl nicht zuletzt wegen ihres imposanten Aussehens. „Fast 2 Meter groß und mit Bubikopf – Hilde Kramer muss eine irre Erscheinung gewesen sein!“, ist sich Schauspielerin und Regisseurin Rike Eckermann sicher. In einer szenischen Lesung wird sie am Samstagabend in der Volksbühne in Hilde Kramers faszinierende Lebensgeschichte eintauchen und ihr mit Unterstützung des Oboisten Thomas Beier Leben einhauchen. Anlass ist das bislang ungedruckte Fragment der Biografie Kramers, das nun im Basisdruck Verlag erscheint.

Hilde Kramer wird 1900 geboren. Nachdem sie 1911 beide Elternteile verliert, kommt sie in das private Kinderheim des Lehrerehepaares Kaetzler nach Riederau am Ammersee; eine glückliche Fügung, die ihr ganzes restliches Leben beeinflussen soll. Sie wächst in einem ungewöhnlich freien, reformpädagogischen Umfeld auf und kommt erstmals mit Politik in Berührung, dient doch das Kaetzler’sche Heim akademischen Sozialisten als politischer Treffpunkt.

Nach einem Internatsaufenthalt zieht sie 1918 nach München, um politische Arbeit zu leisten. Fortan arbeitet sie in München, Berlin und Moskau als Protokollführerin und Sekretärin politisch hochrangiger Funktionäre. Sie verkehrt mit zentralen Figuren der Revolution wie Karl Liebknecht, Erich Mühsam und Eugen Lèvine und wird von ihren vorwiegend männlichen Kollegen akzeptiert und anerkannt. In Moskau lernt sie ihren späteren Ehemann Edward Fitzgerald kennen und kehrt 1924 endgültig nach Berlin zurück, da sie ihren Sohn nicht in Russland zur Welt bringen möchte. An dieser Stelle enden Kramers Aufzeichnungen, 1974 verstarb sie über der Niederschrift ihrer Biografie.

„Das Besondere an Hilde Kramers Biografie ist, dass sie das für sie Selbstverständliche, ihre politische Arbeit, in den Hintergrund stellt“, findet Eckermann. Während auf den Versammlungen, die Hilde Kramer besuchte, Putschversuche geplant wurden, erinnert sie sich an die Kopfschmerzen, die ihr der Zigarettenrauch ihrer männlichen Genossen bereitete.

Bohemistischer Lebensstil

Schreibt sie über die Zeit in Berlin, in der sie als Sekretärin des US-Präsidentschaftskandidaten Christensen und dessen Farmers Labor Party arbeitete, dann sticht dort ihre Freude über das erste Paar Seidenstrümpfe, das sie von ihm erhält, hervor. Die politische Arbeit ist ihr so unweigerlich eingeschrieben, dass sie es nicht für nötig erachtet, davon zu berichten. Die geschichtlichen Ereignisse setzt sie als bekannt voraus, der Fokus ihrer lebhaften Erzählungen liegt auf dem Alltäglichen, dem Zwischenmenschlichen oder der Beschreibung ihres bohemistischen Lebensstils.

Trotz der großen zeitlichen Distanz ihrer Aufzeichnungen zum Erlebten gelingt es Kramer, sich in die euphorische, idealistische Denkweise ihres jugendlichen Ichs zurückzuversetzen. „Ich war entschlossen, mein Leben dem Kampf für den Sozialismus zu widmen – das war mein Beruf, für den ich bereit war […]schlimmstenfalls mein Leben zu opfern. Es war alles so einfach und klar, aber wie das im Einzelnen aussehen würde, wusste ich nicht.“ Obwohl sie noch sehr jung war und infolgedessen stellenweise sicherlich unwissend, war Hilde Kramer nicht naiv, sondern hinterfragte kritisch und beurteilte das politische Geschehen aus ihrer einzigartigen Perspektive, denn sie war hautnah dabei gewesen.

Dass Kramers Geschichte nicht in Vergessenheit gerät, ist Rike Eckermann, die die Veranstaltungsreihe LeseGuerilla mit ins Leben gerufen hat, ein besonderes Anliegen. Radikalisierungstendenzen an den politischen Rändern, das Lebensgefühl, das als „Tanz auf dem Vulkan“ beschrieben wurde, ohne zu wissen wohin die gesellschaftlichen Entwicklungen führen werden – Hilde Kramers Zeit lässt erschreckende Ähnlichkeiten zur Jetzt-Zeit erkennen. „Wir leben eigentlich in den Goldenen Zwanzigern, die langsam aufhören golden zu sein. Alles spitzt sich langsam zu“, zieht Eckermann die Parallele. Umso wichtiger, dass Zeitdokumente wie Kramers Biografie überdauern.

„Lesen: Hilde Kramer – ­Rebellin in München, Moskau und Berlin“: Roter Salon Volksbühne, Samstag, 20:00 Uhr