Glück Der Tag der Deutschen Einheit markiert auf der Berliner Pferderennbahn Hoppegarten den Saisonhöhepunkt. Ein Besuch
: Da läuft die Weltmacht

Alles auf „Indigo“

Foto: Frank Sorge/imago

Dem Glücksspiel verfallen sind in der Regel die ganz Armen und die ganz Reichen. In ärmeren Vierteln der Großstädte gibt es ganze Straßenzüge, die von Wettbüros dominiert werden – und die Queen lebt für: Pferderennen. Aber was macht man auf einer Rennbahn, wenn man weder zu der einen noch zu der anderen Gruppe gehört und einfach bloß mal gucken will?

Es ist eine Frage des Rechnens und des Glücks. Der Eintritt kostete 14 Euro, eine Bratwurst 4,50 Euro. Macht 18,50 Euro. Ein Wetteinsatz – 5 Euro auf Sieg im fünften Rennen auf „Indigo Mood“ – brachte einen Gewinn in Höhe von 15 Euro, abzüglich des Einsatzes also 10. Das bedeutet, dass ich insgesamt nur 13,50 Euro für Eintritt und Bratwurst hatte aufwenden müssen, weil ich mit „Indigo Mood“ richtiges Glück hatte. Anders gerechnet: Die Bratwurst hatte ich ge­wonnen – und obendrein 50 Cent.

Weil ich jedoch 10 Euro gewonnen hatte, sah ich mich genötigt, meine Begleitung zu einem Glas Weißwein einzuladen, machte also zwei Gläser Weißwein zu 10 Euro. Wie gewonnen, so zerronnen, dachte ich noch – ohne zu bedenken, dass ich dieses Geld ja eigentlich gar nicht gewonnen hatte, diente der Betrag doch lediglich zur Tilgung der mir bereits entstandenen Kosten. Auf dem Taxameter standen nun also wieder 23,50 Euro, die ich durch den Schornstein geraucht hatte.

Diese Erkenntnis wiederum weckte den inneren Uli Hoeneß in mir, schließlich sind Gewinne, die man beim Pferderennen einstreicht, auch noch steuerfrei. Was, wenn ich den verbliebenen 10-Euro-Schein in meiner Hosentasche auf „Potemkin“ im sechsten Rennen setzen würde, und zwar auf Sieg? Bei einer Ausschüttung 1:3 würde das schließlich einen Gewinn von 20 Euro bedeuten. Dann hätte ich für einen ganzen Nachmittag nur 3,50 Euro ausgegeben, was ungefähr einem S-Bahn Ticket ABC entspricht, das man zur Anreise nach Hoppegarten benötigt.

Ich musste jedoch feststellen, das mir der letzte 10-Euro-Schein aus der Tasche gefallen war, so ein Pech. „Potemkin“ gewann selbstverständlich und ich fuhr schwarz mit der S-Bahn nach Hause. Ganz arm, doch dafür hatte ich mich königlich amüsiert. Martin Reichert

Falsche Wiese

Die Pferderennbahn Hoppegarten ist kein Erholungsort, das nur zur Vorwarnung für nächstes Jahr. Am letzten Saisontag vergangenes Wochenende war jedenfalls halb Berlin da, wer also Wert auf Anonymität legt, sollte seine Sonnenbrille nicht vergessen oder nüchtern auftauchen, um auf die Fragen dieser Welt angemessen antworten zu können. Liegt man mit der Picknickdecke auf der falschen Seite der Wiese, wird man auf die richtige Seite der Wiese verwiesen. Oder man muss die Picknickdecke wegpacken und sich ins Gras setzen. Wobei Sitzen auch eher falsch ist. „Eigentlich wird hier gestanden“, hat eine Hoppegarten-Angestellte erklärt, aber sie könne ja nicht jeden Besucher einzeln auffordern, sich hinzustellen. Wäre jedenfalls viel Arbeit. Bei 13.600 Besuchern.

Hat man sich irgendwie durchgeboxt zwischen Kindern mit Zuckerwatten und Männern mit Zylindern, kommt man endlich an der Kasse an und reicht verschwitzt seinen Tippschein ein – „1 Euro“ –, spiegelt der Einsatz der Person, die nach einem in der Schlange steht, am besten noch die eigene Armut: „350 Euro. Gut, lassen wir den Schein weg. Machen wir 300.“

Dann aber wird zum Start getrötet, Glück fängt immer neu an und Glück geht super unter Stress, die Pferde rennen; die 4, die 3, die 6 zieht nach vorne – niemand kann sich ernsthaft diese Zahlen merken, besser man setzt auf Namen, worauf sollte man auch sonst? Den magersüchtigsten Jockey? 57,5 Kilo scheinen die faire Mitte zu sein, die „Weltmacht“ also ist es, sie kommt, sie rast wie wild, ein Junge hüpft, los doch, looos!

Der Junge lässt die Schultern hängen, Seufzen, Stöhnen, man tauscht das Versprechen, nie wieder zu wetten. „Ist ja eh viel zu voll.“ – „Nie wieder!“ – „Obwohl.“ – „Nächstes Jahr vielleicht.“ Wer braucht schon die Weltmacht. Annabelle Seubert

So sozial

Pferderennen sind sehr sozial: Fast immer gibt es ein Rennen für sieglose Pferde! Für solche also, die noch nie in den Genuss kamen, den Sprint zu gewinnen und anschließend von ihren adligen Besitzern mit einer Extraladung Premiumheu überschüttet zu werden. Außerdem versuchen die Veranstalter, die Siegchancen von allen Pferden gleich zu setzen. Handicap heißt das dann. Oder Ausgleich? Das Regelwerk ist kompliziert. Da bekommt das eine Pferd 2-Kilo-Gewichte aufgeschnürt, das andere gar 4.

Auch bei der Namensgebung der Pferde – für Laien oft einziger Wettanlass – gelten soziale Aspekte. „Polish Princess“, „Solar Power“, „König Cala“, „France Extreme“, „Kleopatra Kimberly“, „Weltmacht“. Alles dabei.

Und dann das Event selbst … Kürzlich spottete meine Zahnärztin, als ich ihr vom Rennen in Hoppegarten erzählte: „Da sind doch nur Snobs.“ Mal davon abgesehen, dass ein nicht zu verachtender Teil des von ihr angesprochenen Menschenschlags sein Geld womöglich mit den kaputten Zähnen anderer verdient, entgegnete ich ihr – mehr sabbelnd als redend: „Nein, da trifft sich die gesamte Gesellschaft.“

Familien mit schreienden Kindern, Arbeiter mit ausgewaschenem Jackett, Studenten mit neuen Zylindern, Hipster mit Bärten, Damen mit Federn. Sie flanieren vorbei an den Fressbuden, reihen sich an den Wettschaltern, drängen sich auf der Wiese vor die Rennbahn – kurz vor dem Start. Sie wedeln mit ihren Wettscheinen, brüllen gemeinsam. Sie trinken Bionade, Bier und Schampus. Sie essen Kaviar, Brezeln und Bockwurst. Sie fallen sich um die Hälse und klopfen sich anerkennend auf die Schultern.

Und jeder hat die gleiche Chance. Paul Wrusch