Vorbild Brasilien

Vom Überleben in der Krise

VON ANDREAS BEHN

Wenn sich eine Debatte im Kreis dreht, hilft ein Blick nach außen. Auch für die Europäer wäre es lohnend, die Erfahrungen anderer Staaten zu studieren. Zum Beispiel Brasilien. Als die mittlerweile aufstrebende Wirtschaftsmacht in den 90er Jahren in den Strudel einer Verschuldungskrise geriet, verordnete der damals allmächtige Internationale Währungsfonds (IWF) eine strikte Sparpolitik, die das größte Land Lateinamerikas in einen Teufelskreis von Arbeitslosigkeit und Deindustrialisierung trieb.

Die Zeit dieser Austeritätspolitik gilt heute als das verlorene Jahrzehnt Lateinamerikas für die Volkswirtschaften und für die Mehrzahl der Menschen, die immer ärmer wurden und keine Aussicht auf einen Aufstieg hatten.

Brasilien und mehrere Nachbarländer haben aus dem verlorenen Jahrzehnt die Lehre gezogen, Krisen nicht mehr mit rein ökonomischen Mitteln und schon gar nicht mit liberalen Dogmen zu begegnen. Vielmehr setzen sie darauf, mit staatlicher Regulierung und gezielten Subventionen Wirtschaftswachstum zu erzielen. Ein politischer Ansatz, der seit vielen Jahren erfolgreich ist und auch die Auswirkungen der europäischen Finanzkrise in Grenzen hält.

Neben der Förderung von Agrar- und Rohstoffexporten hat die Stabilisierung des Binnenmarkts Priorität. Sozialprogramme und die Stärkung der Kaufkraft der ärmeren Schichten werden nicht gebremst, sondern ausgebaut. Es ist eine klassische nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik, die in Brasilien zu stabilen Verhältnissen geführt hat und auch für Europa eine Option ist. Das Sozialprodukt wächst, die Auslandsschulden sind abgezahlt, die Währungsreserven immens und noch nie waren so wenige Brasilianer arbeitslos – zumindest laut offiziellen Zahlen. Und sogar in Europa werden die erfolgreichen Sozialprogramme gelobt, die zwar nicht unbedingt nachhaltig sind, aber doch effektiv die Armut bekämpfen und die Inlandsnachfrage ankurbeln.

Angesichts dieser Erfahrungen stellt sich für EU-Regierungen die Frage, ob es ökonomisch sinnvoll ist, unzählige Arbeitslose in Kauf zu nehmen und damit eine mittelfristige Schwächung der Inlandsnachfrage zu riskieren. Zumal sich eine solche Stagnation schon bald auf andere Gesellschaftsbereiche wie das Bildungswesen auswirkt. Im Gegensatz dazu zeigt das Beispiel Brasilien, dass soziale Stabilität auch positive Auswirkungen im Bildungsbereich hat und heute mehr junge Menschen als je zuvor die Universitäten besuchen.

Das wirtschaftliche Erfolgsmodell in Teilen Lateinamerikas hat auch das Selbstvertrauen gestärkt. Statt wie früher zu den reichen Ländern aufzuschauen, werden jetzt Ratschläge erteilt. Mehr noch, angesichts der Ansteckungsgefahr fordern südamerikanische Regierungen die EU auf, ihr Krisenmanagement zu überdenken. Sparmaßnahmen und der Abbau von Rechten seien die falsche Antwort auf eine Krise, so Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff. Sie sagt ihren europäischen Kollegen „noch mehr Rezession und Arbeitslosigkeit“ voraus, sollte der wirtschaftspolitische Kurs beibehalten werden.

■ lebt seit sieben Jahren als Korrespondent in Rio de Janeiro und arbeitet dort unter anderem für die taz und die Nachrichtenagentur epd. Schwerpunktmäßig schreibt er über Themen aus Politik, Wirtschaft und Medien. Schon als Student der Soziologie hat er sich für Lateinamerika interessiert und in Mexiko studiert. Die verlorenen Jahre Brasiliens hat er verpasst, als er hinzog, herrschte schon Aufbruchstimmung im Land.

Natürlich lässt sich Europa nicht einfach mit Brasilien vergleichen, hier mangelt es an Rohstoffen, und eine Exportförderung würde die Probleme der EU kaum lösen. Auch begeht Brasiliens Entwicklungsmodell die gleichen Fehler wie einst die Industriestaaten: Wirtschaftswachstum ist das oberste Ziel, erkauft wird es auf Kosten der Umwelt, sei es durch riesige Infrastrukturprojekte wie die umstrittenen Wasserkraftwerke im Amazonasgebiet oder durch die Förderung chemielastiger Monokulturen in der industriellen Landwirtschaft.

Die Lektion lautet vielmehr, dass die öffentliche Hand die zukunftsträchtigen Sektoren stützen muss, die im Lauf einer Krise unter die Räder geraten sind. Statt Ausgabenkürzungen als Allheilmittel zu verschreiben, sollte der Staat Verantwortung übernehmen und sich daran erinnern, dass ein gefestigter Sozialstaat mit einem starken Binnenmarkt Hand in Hand geht.